Die heilige Jungfrau und Martyrin Agnes, diese liebliche Erscheinung der ersten christlichen Zeit, hat im Laufe der folgenden Jahrhunderte eine große Anzahl von Namensgenossinnen und Nachfolgerinnen in der Jungfräulichkeit und Heiligkeit gehabt. Zu diesen gehört auch die heilige Agnes von Assisi, die leibliche Schwester der heiligen Mutter Klara, der ersten geistlichen Tochter des heiligen Franziskus und Mitstifterin seines zweiten, des Klarissen-Ordens. Als Klara, achtzehn Jahre alt, vom heiligen Franziskus mit dem Ordensgewand bekleidet und vorläufig in dem Benediktinerinnenkloster Sankt Angelo in Panzo untergebracht worden war – im Jahr 1212 – erfasste auch ihre noch im Elternhaus weilende vier Jahre jüngere Schwester Agnes ein mächtiges Sehnen nach dem Paradies des gottgeweihten Lebens und so verließ sie schon sechzehn Tage nach der Einkleidung Klaras gleichfalls das Elternhaus und die Welt und begab sich zu ihrer Schwester nach Sankt Angelo, um gleich dieser eine Jüngerin des heiligen Franziskus zu werden und ein Leben des Gebetes und der strengsten Armut zu führen. Aber das sollte nicht ohne Kampf und Leid abgehen. Denn als ihre Verwandten, die ohnehin noch über die Weltflucht Klaras erbittert waren, von diesem Entschluss der Agnes erfuhren, stürmten sie in das Kloster Sankt Angelo und suchten die Jungfrau zuerst durch Schmeicheleien und Lockungen, dann aber durch Drohungen von ihrem heiligen Vorhaben abzubringen. Jedoch vergebens. Nun schritten sie zur rohen Gewalt. Man schlug die Arme, riss ihr die Kleider vom Leib, zerrte sie an den Haaren und zuletzt packte sie einer dieser „zärtlichen Verwandten“ kurzerhand, um sie nach Hause zu tragen. Jetzt aber griff die göttliche Wundermacht ein. Agnes wurde plötzlich so schwer, dass man sie nicht von der Stelle bringen konnte und ein Oheim, der sie schlagen wollte, fühlte einen solchen Schmerz in der Hand, dass er davon abstehen musste. Entwaffnet und beschämt kehrten die Angreifer nach Hause zurück, Agnes aber begab sich frohlockend wieder ins Haus des Herrn zu ihrer Schwester.
Mittlerweile hatte der heilige Franziskus für seinen Frauenorden Kloster und Kirche Sankt Damiano bei Assisi erworben und führte nun Klara und ihre Schwester daselbst ein. Zugleich nahm er auch Agnes durch Abschneiden der Haare und Erteilung des Ordensgewandes förmlich in den neuen Orden auf. An der Seite Klaras und der übrigen Bräute Christi, die sich ihr angeschlossen, führte nun Agnes ein heiliges, engelgleiches Leben. Insbesondere verschärfte sie die ohnehin schon äußerst strenge Lebensweise des Ordens noch durch freigewählte schwere Abtötungen. In Anbetracht dieser Heiligkeit erkor sie der heilige Franziskus, in Florenz auf dem Berg Celio ein neues Kloster ihres Ordens zu gründen und machte sie zu dessen Oberin. Diese Trennung von Klara und ihren ersten Mitschwestern und vom Mutterkloster Sankt Damian verursachte der heiligen Agnes nicht geringes Herzeleid, wie aus einem noch vorhandenen Brief an Klara hervorgeht. Aber die Braut des Herrn wusste sich doch vollkommen in seinen Willen zu ergeben und leitete das neue Kloster ganz im Geist des heiligen Franziskus und der heiligen Mutter Klara, so dass viele fromme und zum Teil sehr vornehme Jungfrauen die Welt verließen und sich der heiligen Agnes anschlossen. Als sie in ihr achtundfünfzigstes Lebensjahr eingetreten war, erhielt sie die Nachricht, dass Klaras Lebensende bevorstehe und dass diese sie nochmals zu sehen wünsche. So eilte Agnes nach Sankt Damiano, tröstete und pflegte ihre heilige Schwester und drückte ihr zuletzt die Augen zu. Vorher aber hatte sie aus ihrem Mund noch die Ankündigung vernommen, dass sie ihr bald nachfolgen werde. Und so geschah es auch. Siebenundneunzig Tage nach dem Hinscheiden der heiligen Klara, am 16. November 1253, ging auch sie zur Hochzeit des göttlichen Lammes ein.
Das Volk verehrte Agnes sofort als Heilige und die Kirche erkannte diese Verehrung an. Ihre Heiligkeit hatte übrigens Gott schon bei ihren Lebzeiten durch liebliche Wunder bezeugt. Klara sah in einer Nacht im Gebet einmal die Schwester von der Erde erhoben und von einem Engel mit drei Kronen geschmückt werden – zum Lohn für eine dreifache fromme Betrachtung: Über die Güte und Geduld Gottes gegenüber den Sündern, über die Liebe des leidenden Heilandes gegenüber ihnen und über die Leiden der armen Seelen im Fegfeuer. Ein anderes Mal ward sie sogar gewürdigt, das göttliche Jesuskind zu schauen.
Hatten die Verwandten der heiligen Agnes von Assisi recht, dass sie über ihren Eintritt in den Ordensstand so erzürnt waren? Nein, denn dieser Stand ist nichts anderes als der Stand Jesu Christi selbst und von ihm empfohlen mit den Worten: „Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen . . . und komm und folge mir nach.“ (Matthäus 19,21) Glückselig, wer dazu berufen ist!