Der heilige Ephräm kam um das Jahr 306 in der Gegend zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris als Bauernsohn zur Welt. Zwölfjährig hatte er einmal einen sonderbaren Traum. Es träumte ihm, er läge der längelang auf einer Wiese. Da sprosste aus seinem Mund ein Weinstock hervor, der schnell wuchs, bis er an das Firmament reichte. Viele Blätter waren an dem Stock und noch mehr Trauben, und es kamen Leute und pflückten die Trauben, und je mehr sie pflückten, desto mehr Trauben reiften an dem Weinstock heran. Es war ein fremdartiger Traum, aber Ephräms späteres Leben war sehr schön darin vorgedeutet.
Als Junge war Ephräm kein übler Kerl, als er aber in die Flegeljahre kam, entwickelte er sich zu einem regelrechten Strick, der eines Tages einen Streich vollführte, für den es wohl keine Entschuldigung gibt. Es soll dieser Streich weder verschwiegen noch beschönigt werden, denn es liegt darin einerseits eine ernste Mahnung an alle, es doch nicht zu toll zu treiben, und andererseits dient es auch zur Erbauung, wenn man erfährt, dass die Heiligen nicht immer heilig waren, dass sie aber durch den Kampf gegen ihre Fehler Heilige geworden sind.
Aus lauter Übermut trieb nämlich eines Tages der fünfzehnjährige Ephräm die Kuh des Nachbarn vor sich her, weiter und weiter, in einen dichten Wald. Da kam ein Wolf und zerriss das Tier. Das hatte Ephräm natürlich nicht gewollt, aber es war geschehen. Heulend lief er heim und bekannte, was er getan hatte. Verdientermaßen züchtigte ihn der Vater. Die Kuh musste dem Nachbarn ersetzt werden, aber weit schlimmer noch war es, dass die Polizei den Übeltäter verhaftete. Im Gefängnis hatte Ephräm dann Muße genug, um zur Einsicht zu gelangen.
Dass der junge Mann einige Tage bei Wasser und Brot fassten musste, machte ihm weniger aus, aber vor der kommenden Gerichtssitzung hatte Ephräm eine unheimliche Angst. Gott und allen Heiligen gelobte er, sich zu bessern, wenn er ungeschoren davonkäme. Tatsächlich ließ der Richter Nachsicht walten und begnügte sich mit einer ernsten Verwarnung, auf Ephräm aber machte die öffentliche Verhandlung einen solch tiefen Eindruck, dass er die Erinnerung daran nie mehr verlor, und sooft er daran dachte, stellte er sich das Gericht am Jüngsten Tag vor, bei dem in Gegenwart aller Menschen eines jeden Sünden restlos aufgedeckt werden. Das waren wohl heilsame Gedanken, die Ephräm da bei sich trug.
Nachdem Ephräm dann daheim die Eltern reumütig um Verzeihung gebeten hatte, begab er sich zu einem Einsiedler, der ihn nach einer längeren Prüfung als Jünger annahm. In kurzer Zeit wurde aus dem jungen Mann ein besserer Mensch, denn er hatte ja Lehrgeld genug bezahlt. Später machte sich Ephräm als Einsiedler selbstständig und ging nach Syrien, weshalb man ihn Ephräm den Syrer nennt. Bald auch war er nicht nur wegen seines heiligmäßigen Lebens, sondern ebenso wegen seiner gotterleuchteten Weisheit im Land berühmt. Weil er sich nicht würdig erachtete, Priester zu werden, erteilte ihm der Bischof die Diakonatsweihe, damit er wenigstens als Prediger auftreten könne.
Ephräm war ein hinreißender Prediger, der besonders häufig und eindrucksvoll auf der Kanzel über das Letzte Gericht redete. Seine Predigten und seine gelehrten Schriften sind heute noch erhalten, und ihretwegen zählt er zu den Kirchenlehrern. Eine weitere Eigentümlichkeit des Tagesheiligen bestand darin, dass er sich auch als Dichter betätigte, der viele Kirchenlieder verfasste, die so schön waren, dass sie nicht nur beim Gottesdienst, sondern auch in den Familien von den Leuten gern gesungen wurden. Unwillkürlich denkt man da an den eingangs erwähnten Traum. Ephräms gottliebende Seele war der himmelanstrebende Weinstock, an dem die Trauben seiner heiligen Lieder hingen. Die Menschen kamen zuhauf und pflückten die Trauben, und je mehr sie die Lieder sangen, desto mehr Trauben reiften an dem Weinstock.
Der heilige Ephräm ist ein Heiliger geworden, weil er immerfort an das Letzte Gericht dachte, bei dem alle Gedanken, Worte und Werke vor aller Welt offenbar werden.