Zur Zeit, als Sigibert, ein Sohn des Königs Dagobert, auf dem fränkischen Thron saß, lebte zu Brüssel in den Niederlanden ein Graf, Witgerus mit Namen, der samt seiner Gemahlin Amelberga sowohl wegen hoher Geburt und großen Reichtümern, noch mehr aber wegen Frömmigkeit und seltener Tugenden allgemein berühmt war. Gott segnete ihre Ehe mit drei Kindern; nämlich mit einem Sohn, Eniebert, der als Bischof ein heiliges Leben führte, und mit zwei Töchtern, von denen die erstere, Reineldis, als Martyrin starb, und die andere, Gudila, wegen ihres engelreinen Lebens die Zierde der Heiligkeit genannt wurde. Nicht ohne Einwirkung der heiligen Vorsehung geschah es, dass dieses Kind, das später in der Kirche Gottes als ein helles Licht durch seine ausgezeichneten Tugenden leuchtete, bei der Taufe von der heiligen Gertrud, die damals schon im größten Ruf der Heiligkeit stand, auf den Händen gehalten und von ihr zur Gottseligkeit des christlichen Lebens geführt wurde.
Nach dem Tod der heiligen Gertrud begab sich Gudila, um getrennt von der Welt, Gott und ihrem Seelenheil desto ungehinderter dienen zu können, auf das zwei Meilen entfernte und ihren Eltern gehörige Landgut Morsellen, wo sich eine Kirche befand, in der sie Tag und Nacht ihren heiligen Betrachtungen und dem Gebet oblag und dabei in einer solchen Armut und Selbstverleugnung lebte, dass sie beinahe ihr ganzes Vermögen zur Unterstützung der Armen und Bedrängten verwendete. Mehrere Geschichtsschreiber des 7. Jahrhunderts erzählen von dieser heiligen Jungfrau unzählige Wunder, die sie in Heilung der Kranken wirkte, und erwähnen der heftigen Versuchungen, die sie vom bösen Geist auszustehen hatte, so zwar, dass sie ununterbrochen zu Gott flehte, sie aus diesem armseligen Leben zu befreien. Ihre Sehnsucht nach dem Himmel wurde erfüllt und sie starb am 8. Januar 712 als ein Muster der Heiligkeit. Ihr Leichnam wurde in der Kirche zu Ham feierlich beerdigt unter dem Wehklagen der Armen und Waisen, die an ihr eine so zärtliche Mutter verloren.
Bei ihrem Grab ereigneten sich so viele Wunder, dass die Kirche die vielen Wallfahrer nicht mehr fassen konnte, und man übertrug ihre Reliquien in die Kirche zu St. Salvator in Morselle, wo Kaiser Karl der Große an ihrem Grab selbst seine Andacht verrichtete und durch die auffallenden Wunder, die da geschahen, bewogen, ein Kloster zu stiften, damit zur Verherrlichung der christlichen Religion und zum Seelenheil der Gläubigen Gottes Lob Tag und Nacht verkündigt würde. Durch verheerende Kriege wurde dieses Kloster nebst der Kirche zerstört und der Leib der heiligen Gudila nach Brüssel gebracht, wo er noch heutzutage in einer herrlichen Kirche aufbewahrt wird.