Manchen ihrer Helden hat die Geschichte den Beinamen eines Großen gegeben, dessen Taten auf der Waage des allwissenden Richters wohl als zu leicht befunden werden und dessen Persönlichkeit einem christlichen Empfinden jenes Titels zu wenig würdig erscheint. Das ist jedoch nicht der Fall beim heiligen Abt Hugo. Bei ihm vereinigt sich mit umfassender politischer Tätigkeit der höchste Grad von Gottesliebe und Heiligkeit, mit einem tatkräftigen und weitstrebenden Geist eine ungemein anziehende Liebenswürdigkeit.
Unter dem Zeichen besonderer Gnade stand schon die Geburt des heiligen Hugo. Ein Priester, der für die Mutter in schwerer Stunde das heilige Opfer darbrachte, sah über seinem Kelch ein kleines Kindlein. Der frommen Mutter war das ein Zeichen, dass ihr Leibesspross zum Priestertum berufen sei, und sie bemühte sich demgemäß ihm schon sehr früh Liebe zu den Wissenschaften und zum heiligen Dienst einzuflößen. Vom Himmelstau der Gnade befruchtet, wuchs auch der kleine Hugo in diesem Sinn heran. Aber der Vater, der mächtige Graf von Semur, wollte nichts davon wissen. Zwar war der Junge zart gebaut und weichen Herzens, aber er musste trotzdem das raue Waffenhandwerk lernen. Äußerlich fügte er sich dem Willen des Vaters, innerlich hatte er mit seinen rohen Kameraden nichts gemein. Im Gegenteil, wenn sie an der Straße lagen und sich im Rauben übten, lag er auf den Knien in einer Kapelle und mehr als einmal machte er wieder gut, was jene den armen Leuten an Schaden zugefügt hatten.
Endlich zeigte ihm Gott einen Weg zur Erfüllung seines Herzenswunsches. Mit vielen Bitten setzte er es beim Vater durch, dass er zu seinem Großoheim, dem Bischof Hugo von Auxerre, gehen durfte um die Grammatik zu lernen. Nicht lange kann er dort gewesen sein. Denn erst vierzehn Jahre war er alt, als er im Kapitelsaal von Cluny um Aufnahme bat, ohne Wissen seines Vaters. „O glückliches Cluny“, rief bei dieser Gelegenheit einer der Mönche aus, „das heute seinen kostbarsten Schatz erhält!“ Nach einem Jahr großer Fortschritte auf dem Weg der Vollkommenheit legte Hugo seine Profess ab. Der Vater hatte bisher immer noch gegrollt. Aber als er nun seinen Sohn wiedersah, aus dessen Augen und Antlitz der Liebreiz der Demut und das Glück der Gottgeeintheit strahlte und dessen körperliche Wohlgestalt durch das Ordenskleid noch gehoben wurde, war er betroffen von seiner außergewöhnlichen Schönheit und söhnte sich mit ihm aus.
Sein geistlicher Vater und Abt Odilo aber schaute in dem jungen Mönch mehr als die bloß persönliche Heiligkeit. Sonst hätte er ihn nicht schon mit zwanzig Jahren zum Priester weihen lassen und zu seinem Großprior bestellt. Ein Jüngling sollte eine Schar von Männern, ehrwürdig durch ihr Alter und ihre erprobte monastische Tugend leiten: nach menschlichem Ermessen ein gewagtes Unterfangen. Doch der heilige Odilo gedachte des Schriftwortes (Weisheit 8,8): „Die weißen Haare, das ist die Einsicht des Mannes, und das Greisenalter ein unbeflecktes Leben.“ Und die Erfahrung gab ihm recht. Als der Tod den Abtstab seinen Händen entwand, fanden seine getreuen Söhne keinen würdigeren Erben und Nachfolger seines Geistes als den Prior Hugo.
Was sollen wir nun erzählen von all der großartigen Tätigkeit, die er während der sechzig Jahre seiner Regierung (1049-1109) entfaltete? Neun Päpsten hat Abt Hugo gedient, war ihr Gesandter am deutschen und französischen Hof, ihr Sprachrohr auf den Kirchenversammlungen. Besonders war er Papst Gregor VII. ein treuer Kampfgenosse im Streit für die Reinheit und Freiheit der Kirche. Andererseits hatte er auch großen Einfluss bei König Heinrich IV., der ihn trotz seiner strengkirchlichen Gesinnung als seinen Taufpaten und väterlichen Freund achtete und liebte. Cluny selbst erreichte unter Abt Hugo den Gipfel seiner Macht nach innen und außen. Hugo ist der eigentliche Schöpfer der großen Kluniazenserfamilie, die ganz auf das Lehensrecht des Mittelalters aufgebaut ist. Der Generalabt war der Lehensherr, der die Äbte der angegliederten Klöster ernannte oder wenigstens bestätigte; kleinere Ordenshäuser erhielten nur mehr von Cluny abhängige Prioren. Im Ganzen mögen es an 2000 Klöster gewesen sein, über die der Abt von Cluny irgendwie zu gebieten hatte. Dazu kam dann noch eine Reihe von Abteien, die unter dem Einfluss von Cluny erneuert wurden; genannt sei z.B. Hirsau in Schwaben, das gerade in dieser Zeit Lebensquelle für das deutsche Mönchtum und das stärkste Bollwerk der kirchentreuen Partei war. Bei einer solchen Lage der Dinge kann man verstehen, dass, als unser Heiliger die päpstliche Tiara ausschlug, das Wort umlief: er wäre durch die päpstliche Würde zu keiner größeren Macht gelangt als er bereits besessen. Zum Ausdruck der Weltstellung seines Klosters und zugleich seiner Liebe und Verehrung für den apostolischen Stuhl baute Abt Hugo eine Kirche zu Ehren des heiligen Petrus und Paulus, eine fünfschiffige Basilika von gewaltigen Ausmaßen, die die Bewunderung aller Zeitgenossen hervorrief. Der heilige Hugo ließ auch durch zwei seiner Schüler, Bernard und Ulrich (von Regensburg), die berühmten „Gewohnheiten von Cluny“ zusammenstellen. Aus ihnen vor allem gewinnen wir Einblick in das innere Leben der mächtigen Abtei. Wie sehr dasselbe gerade damals in Blüte stand, dafür haben wir das Urteil eines Fachmannes, des heiligen Kardinalbischofs Petrus Damiani, der in seinen Anforderungen wahrlich nicht mehr strenger sein konnte. Nach einem längeren Besuch in Cluny schrieb er zwei Briefe an Hugo, den „Erzengel der Mönche“, und sein Kloster; darin ist er voll des begeistertsten Lobes über den „Paradiesgarten“, über den „fruchtschweren Acker des Herrn“, den er dort angetroffen hatte.
Für den Geschichtsschreiber ist der heilige Hugo in erster Linie der große Abt und einflussreiche Diplomat; vor den Augen des allmächtigen Herrn und Richters aber wird er vor allem Gnade gefunden haben wegen seiner Liebe zu den armen und notleidenden Gliedern Christi. Es ist erstaunlich, was er da alles geleistet hat. Man kann sagen: Cluny, wohin aus aller Welt die kostbarsten Schätze und Geschenke zusammenströmten, war für ihn nur eine Herrgottsbank, ein Sammelbecken für die Armen. Und Abt Hugo fasste das Almosengeben als seine persönlichste Sache auf. Seine Zelle in Cluny glich eher einer Schuster- und Schneiderwerkstätte und gelegentlich hantierte der große Abt selbst mit Nadel und Schere, um alte Kleider wieder brauchbar zu machen. Und war einmal seine Hand leer, sein Gottvertrauen war unerschöpflich. Einmal – er war gerade auswärts – sandten die Brüder von Cluny zu ihm, sie wären in großer Not, er möge ihnen helfen. Was tut der Heilige? Er schreibt einen Brief an die heiligen Apostelfürsten und beschwört sie, sie möchten den Ort, den sie aus kleinen Anfängen so groß gemacht hatten, aus dieser Bedrängnis erretten. Der Brief wird auf dem Hochaltar in Cluny niedergelegt, und siehe! einige Tage darauf strömt ihnen die Unterstützung in so reichem Maße zu, dass für ein Jahr der Unterhalt gesichert ist.
Wenn ein Mann sechzig Jahre lang Würde und Bürde einer Herrscherstellung getragen hat, ist es begreiflich, dass er sich nach Ruhe sehnt. So bat auch der heilige Hugo schließlich jede Stunde um seine Auflösung und bereitete sich mit aller Sorgfalt durch Almosen und Bußwerke darauf vor. In der Fastenzeit 1109 meldeten sich die ersten Todesboten. In der Karwoche steigerte sich seine Schwäche so, dass er am Karsamstag die Osterkerze voll Sehnsucht als die Lichtsäule begrüßte, die ihn sicher geleiten möge in das Land der Verheißung, in das er schon von der Grenze aus hineinschaue. Am Osterfest besserte sich jedoch sein Zustand, dass er sogar noch einmal das Hochamt feiern konnte. Endlich am Osterdienstag abends erfolgte seine Auflösung; in der Marienkirche gab er, auf Sack und Asche liegend, ohne Todeskampf seine Seele in die Hände des Schöpfers zurück.
Zwei Jahrhunderte lang erfüllte Cluny mit seinem Lichtglanz die christliche Welt. Dann begannen seine Bewohner von der Höhe ihres Ideals herabzugleiten und damit schwand auch der äußere Segen von der Abtei. Was einst ihr größter Stolz war, ihre herrliche Domkirche, ist vom Erdboden weggetilgt. Was noch geblieben ist, das ist die Verehrung seiner großen heiligen Äbte, das ist das Ideal eines Mönchtums, das in erster Linie die Pflege des Gottesdienstes als seine Aufgabe betrachtet. Was an Cluny Menschenwerk war, hat das Erdenschicksal geteilt; ewig wird nur bleiben das Wunderbare, das Gottes Geist in seinen Heiligen geschaffen hat.