Der Chiemsee, das „Bayerische Meer“, noch in dem Vorland der altbayerischen Alpen liegend, zieht jährlich Tausende von Wanderern an, die sich an den Schönheiten und Erinnerungen erfreuen, die Natur, Kunst und Geschichte über seine Inseln in beglückender Fülle ausgestreut haben. Die „Herreninsel“ trug seit alten Tagen ein berühmtes Benediktinerstift, das durch die Ungarn zerstört, im zwölften Jahrhundert als Augustinerchorherrnstift neu errichtet wurde. Sechshundert Jahre hindurch war sie dann Bischofssitz. Der verschwundenen Herrlichkeit Schimmer hat die moderne Zeit in ihrer Art wieder aufleuchten lassen wollen in dem mit verschwenderischer Pracht hingezauberten Meeresschloss eines unglücklichen Königs: eine lebens- und freudeleere, eine unfruchtbare Schöpfung! Eines Menschengeistes glanzvolle Ruine schon im Entstehen! Wie trittst du da scheu zurück, du bescheidenes Eiland, du stille „Insel der Frauen“! Doch glücklicher du! In holder Anmut steigt Frauenwörth aus den Fluten des Sees empor! Eine uralte Stätte, umschimmert vom Zeitenzauber der Geschichte, steht noch immer Kirche und Kloster der Benediktusjüngerinnen da, lebendig und fruchtbar durch frommes Gebet und gedeihliche Erziehungstätigkeit für das weite Land! Schon Herzog Thassilo II. hat es 782 gegründet, eine übelberatene Zeit 1803 der Zerstörung überliefert, ein glücklicherer, einsichtsvoller König aber 1837 wiederhergestellt. Waltet doch über Frauenwörth eine mächtige Herrin und Schutzfrau, bergen seine Mauern doch einen ehrwürdigen Schatz, glänzender und kostbarer den Kindern der Heiligen als Erdengold und Edelgestein.
Die selige Irmengard ist diese große Herrin und Fürbitterin des Stiftes und des ganzen Chiemseegaues. Der wertvolle Schatz aber, den das Königserbe, „Schloss“ und Münster Frauenchiemsee, in seinen Mauern hütet, sind die ehrwürdigen Überreste der Seligen. „Die Gerechten leben ewig“ (Weisheit 5,16). Sie leben in Gottes Anschauung und im Gedächtnis und der Verehrung der Menschen. Mag auch Jahrhundert um Jahrhundert vorübergezogen sein, seitdem „ihre Leiber in Frieden bestattet worden sind, ihr Name lebt doch von Geschlecht zu Geschlecht“ (Jesus Sirach 44,14).
Wir müssen zurückgehen bis in die Zeit der Begründung des fränkisch-deutschen Reiches. Der Enkel Kaiser Karls des Großen, König Ludwig der Deutsche, Sohn Ludwigs des Frommen, erhielt schon in seinem zwölften Jahr, 817, das Herzogtum Bayern zugeteilt, im Jahr 843 im Vertrag zu Verdun die Hauptmasse der deutschen Länder, das „ostfränkische Reich“, schließlich noch, 870, aus dem Lotharischen Reich die Länder links des Rheins bis zur Maas, das Bistum Metz und Elsass, Gebiete, um die bis ins 20. Jahrhundert noch der blutige Streit sich drehte. König Ludwig war ein Mann von Biederkeit und Rechtlichkeit, mäßig in Speise und Trank, unermüdlich und umsichtig in seinen Standespflichten und dabei von tiefer, ernster Frömmigkeit. Ganz ebenbürtig an ausgezeichneten Geistes- und Herzensgaben war ihm seine Gattin Hemma, eine Tochter des bayerischen Grafen Welf. Sieben Kinder schenkte diesem Königspaar der liebe Gott, als viertes unsere Irmengard, die im Jahr 831 oder 833 den Schauplatz dieser Erde betrat. Königin Hemma erzog ihre Kinder mit großer Sorgfalt zur Frömmigkeit und Tugend. Die Prinzessinnen Hildegard und Berta weihten sich Gott früh im Ordensstand. Irmengard wurde aller Wahrscheinlichkeit nach den Stiftsdamen in Buchau am Federsee in Württemberg zur Erziehung und Ausbildung übergeben. Da lernte das Kind, was die Klosterschulen, damals die einzigen Bildungsstätten, boten Lesen und Schreiben zum Verständnis der Heiligen Schrift und als Sprache der Gebildeten Latein, auch Malen und Sticken zur Fertigung der Bücher und Paramente für Chor und Altar, aber auch Spinnen und Weben, Stricken und Nähen. Irmengard gewann das klösterliche Leben selbst lieb und entschloss sich mit freiem Willen zur vollen Hingabe an Gott im Ordensstand. Hierin kam sie auch einem Wunsch der Eltern entgegen.
Aber nicht Buchau sondern Chiemsee sollte das Glück haben, den auferbaulichen Wandel der Ordensjungfrau zu schauen und die reichgesegnete Tätigkeit der späteren Äbtissin und einflussreichen Herrin zu genießen. Dort mag sie im Jahr 841 oder 843 eingetreten sein und einige Jahre später als Tochter des heiligen Benedikt Profess abgelegt haben.
Von lebendigem Glauben beseelt, unterwarf sich Irmengard in vollkommenem Gehorsam ihren Vorgesetzten. Ihre innige Gottesliebe hieß sie auch ihre Mitmenschen ohne jeglichen Unterschied mit der ganzen Hingabe ihres gütigen Herzens umfangen. Weit entfernt, sich auf ihre fürstliche Abstammung oder die Macht ihres Vaters etwas zugute zu tun, war sie demütig und behielt fest im Auge, dass sie alle Güter und Vergnügungen der Welt einzig deshalb verlassen habe, um im Kloster den göttlichen Bräutigam Jesus zu finden und die Seligkeit des ewigen Lebens zu erkaufen. Die Rauheit des Klimas ertrug sie mit Geduld und im Geist der Buße. Obwohl zart am Körper, wie ihr heiliger Leib noch jetzt augenscheinlich ersehen lässt, erhob sie sich um Mitternacht zum Chorgebet. Die duftende Lilie der Reinheit behütete sie sorgsam unter den Dornen der Abtötung. Sie hielt strenge Fasten und gebrauchte ein härenes Bußkleid, das mehr als 700 Jahre nach ihrem Tod an ihren heiligen Gebeinen aufgefunden wurde.
Ein weites Feld der Wohltätigkeit eröffnete sich ihrem edlen Herzen, als sie etwa um das Jahr 850 zur Vorsteherin des Klosters erwählt wurde. Vielleicht war es schon in der Absicht König Ludwigs gelegen, dem sehr armen Kloster Chiemsee seine Wohltätigkeit zuzuwenden, als er seine Tochter dorthin gab, während er doch in Buchau, das ein königliches Krongut war, leicht seinen Willen hätte durchsetzen können, Irmengard zur Äbtissin zu machen. In Chiemsee nun, wo die Klosterfrauen nicht einmal das Nötige zum Leben hatten, konnte die selige Äbtissin mit dem reichlichen Einkommen des Klosters Buchau, das der Vater ihr auf Lebensdauer als Aussteuer zugewiesen hatte, dem Zug ihres zum Wohltun geneigten Herzens freie Entfaltung gewähren. Kloster Chiemsee wurde durch Irmengard gleichsam vom langsamen Tod zu gesundem, blühendem Leben erweckt. Darum haben sie die dankbaren Nonnen auch mit dem Titel Stifterin und erste Äbtissin von Chiemsee geehrt, obwohl das Kloster schon mehr als sechzig Jahre bestand und auch schon eine Äbtissin, namens Diemut, gehabt hatte. Irmengard erwies sich als eine umsichtige und fürsorgliche Verwalterin ihres Gutes. Sie erreichte es im Jahr 857 mit Bitten bei ihrem Vater, dass ein vorteilhafter Gütertausch zwischen Buchau und dem Abt Folchwin von Reichenau zustande kam. Auch die Ortschaften am See erfuhren ihre mildtätige Hand. Und doch war ihr Kloster nicht einmal frei; sie konnte nicht ungehemmt zu seinem Gedeihen wirken. Es war lange vorher schon dem Bischof von Metz als Eigentum zugewiesen, dessen Beamten zugunsten ihres Herrn die Verwaltung der Liegenschaften führten. Mit Klugheit und Demut fügte sie sich in diese harten Verhältnisse. Mit treuem Mutterfleiß und unermüdlicher Sorge arbeitete Irmengard an dem inneren Ausbau des Klosters und der Förderung der Tugend. Zucht und nützliches Können im Kloster haben denn auch seine Zukunft sichergestellt. Dass sich die selige Äbtissin auch um die Schule verdient gemacht und zur Hebung des Volkes ihren Anteil mit beigetragen hat, ist, wenn auch nicht urkundlich verbürgt, doch aller Annahme würdig. Wenigstens sind, soweit die Chronik von Chiemsee zurückreicht, allezeit Kinder zur Erziehung im Kloster gewesen.
Das tiefste Leid, das auch dem zartfühlenden Herzen der seligen Irmengard nicht erspart blieb, war der schwere Zwist in ihrer Familie. Ihr Vater führte Krieg gegen den Großvater, die Brüder gegen den Vater. In inbrünstigem Flehen mag sie da ihre reinen Hände zum Himmel erhoben haben und wer weiß, ob nicht die harten Züchtigungen, die sie mit Fasten und Bußübungen ihrem Leib auferlegte, der Sühnung so schwerer Frevel gegolten haben. Und wahrlich! Die gottdienende Jungfrau hat nicht umsonst für ihre verirrten Brüder gebetet und gebüßt. Aber um jene Zeit, da ihr Bruder sich gegen den Vater empörte, brach auch das leidbeschwerte Herz der duldenden Äbtissin. Von den Banden des Leibes befreit, zog die glückliche Seele hinauf in die ewige Heimat, wo kein Zwist mehr die Eintracht stört und der Friedensfürst herrscht, der ihr Vater, Bruder und Bräutigam zugleich ist.
„Ihr Andenken bleibt gesegnet, ihre Gebeine mögen hervorsprossen an ihrer Stätte“ (Jesus Sirach 46,12) Schon ums Jahr 1004, unter der Äbtissin Tuta, und wie man vermutet auf eine Erscheinung Irmengards hin, hat Abt Gerhard von Seeon eine Öffnung des Grabes der Seligen vorgenommen. Beim Wiederverschließen des Grabes hat der schriftkundige Abt ein Bleitäfelchen beigegeben, das noch heute, wenn auch von der Zeit hart mitgenommen, im Münchener Nationalmuseum aufbewahrt wird und das einen unwiderlegbaren Beweis bietet von der schon ums Jahr 1000 lebendigen Verehrung der seligen Irmengard im Chiemgau. Denn eine Grabesöffnung und die Ehre der Erhebung der Gebeine wurden nur solchen Verstorbenen zuteil, die vom Volk als Heilige angesehen wurden und deren Gräber besonders geehrt wurden. Die Aufschrift des Bleitäfelchens lautet in deutscher Übersetzung: „In diesem Grab ruht Irmengard, die Tochter Ludwigs, des großmächtigen Königs, eine überaus heilige Jungfrau. Gesehen wurde sie zur Zeit der Äbtissin Tuta (man hatte also ein „Gesicht“, eine Erscheinung der Heiligen), vorgestanden aber hat sie (war Vorsteherin, Äbtissin) viele Jahre zuvor. Am 16. Juli zog sie den Menschen aus (d.h. sie starb).“ Um den Rand läuft die Schrift (teilweise nach Philipper 4,4): „Glaubt und freut euch im Herrn! Wiederum sage ich: Freut euch! Bittet den Herrn den König!“ Auf der Rückseite ist ein Kreuz, ein sogenanntes Benediktuskreuz, das den Namen des Abtes Gerhard eingeschrieben enthält nebst einer Lobpreisung Gottes und des heiligen Kreuzes. Die Füllungen des Kreuzes enthalten die Worte: „Alpha Omega – Kreuz Licht – König Gesetz – Amen.“ Die Randschrift der Rückseite bildet die Fortsetzung der Vorderseite (Philipper 4,5): „Euer mildes Wesen werde allen Menschen kund. Der Herr ist nahe.“ Dazu kommt noch die Anrufung: „Ora pro nobis“ – bitte für uns.
Auf die Grabplatte hat Abt Gerhard noch weiter eine längere Grabinschrift in hübschen Versen setzen lassen. Diese Inschrift wurde 1475 auf einen neuen, roten Marmorstein übertragen, wohl weil der erste Stein im Laufe der fast fünfhundert Jahre schadhaft geworden war. Eine weitere Erhebung der Gebeine Irmengards und eine mit großer Feierlichkeit vorgenommene Übertragung in die Apostelkapelle fand 1631 statt unter der Äbtissin Magdalena Haidenbucher, dem zuständigen Erzbischof Paris Lodron von Salzburg. Weil aber der neue zinnerne Sarg mit den Reliquien in der Apostelkapelle unter dem Grundwasser litt, brachte man ihn 1641 wieder in die alte Gruftstätte zurück.
Aus all der Ehrung der Reliquien Irmengard, aus den klaren, lobvollen Grabinschriften, besonders dem beschriebenen Bleitäfelchen können wir das sichere Zeugnis entnehmen, dass der seligen Äbtissin Irmengard seit unvordenklichen Zeiten religiöse Verehrung erwiesen wurde. Aus neuester Zeit sind viele Gebetserhörungen bezeugt. Deshalb wurde von der bischöflichen Behörde in München der Informationsprozess begonnen, um die Bestätigung der Verehrung der Seligen vom Heiligen Vater zu erhalten. Hierzu wurde abermals eine Grabesöffnung vorgenommen. Der 13. Juli 1922 war ein großer Tag auf Frauenchiemsee. Kardinal Erzbischof Dr. Michael Faulhaber von München mit Mitgliedern der Seligsprechungskommission, Gelehrten und sonstigen Zeugen war in eigener Person gekommen. Das Grab wurde geöffnet, der Zinnsarg aus dem Marmorsarg gehoben, sein Inhalt und die ganze Lage genau in Augenschein genommen, untersucht, vermessen, fotografiert und protokolliert. Von dem heiligen Leib ist fast das ganze Knochengerüst vorhanden, nur das Haupt fehlt. Man wird es schon anfänglich als Reliquie anderswohin gegeben haben. In feierlicher Prozession wurden die ehrwürdigen Überreste, die man zum größeren Teil wieder in den alten Zinnsarg, das übrige in einen Reliquienschrein legte, getragen von vier Nonnen, in den Chor des Klosters eingeführt. Ehrfurcht und heilige Freude glänzte auf den Gesichtern aller, die dem hehren Akt beiwohnten, der sich unter den alten hohen Münsterhallen wie ein Stück aus längst entschwundenen Tagen abspielte. Zuversichtlich ist die Hoffnung, dass den Bittschriften sämtlicher Bischöfe Bayerns und Deutschlands, zahlreicher hoher und höchster Herrschaften, der Ordensfrauen und vieler anderer geistlichen und weltlichen Personen um Anerkennung des Kultes der seligen Irmengard von Rom Erfüllung gewährt werden wird.
Die selige Äbtissin gibt uns diese Meisterlehre aus dem Grab: „Alpha und Omega“, Anfang und Ende eures Lebens gehöre Christus! Er sei euer einziger König und Herr! „Kreuz – Licht“: Kreuz und Leiden soll euch allezeit so lieb sein wie das klare Licht, wie Trost und lauter Freude! „König – Gesetz“: Christus, euer König, sei auch der Gesetzgeber, die Regel und lebendige Richtschnur aller eurer Handlungen! „Amen“: So soll es sein! Dann werdet ihr euch allezeit freuen im Herrn, der euch nahe ist als Gott und König eures Herzens. Und hinwiederum werdet ihr euch erfreuen eines gesegneten Andenkens bei den Menschen, denen euer mildes Wesen, eure Heiligkeit, kund geworden!