Weil niemand eine größere Liebe hat, als wer sein Blut für seinen Freund vergießt, deshalb hat der Erzmartyrer Stephanus die hohe Ehre, dass sein gestriges Fest gleichsam eins ist mit dem Weihnachtsfest. Dann aber zündet die Kirche heute die zweite Apostelkerze bei der Krippe an – die erste war Sankt Thomas am 21. Dezember – und feiert das Gedächtnis jenes Mannes, der von allen Männern hier auf Erde dem Herzen des Heilandes am nächsten standen. Es ist der heilige Apostel und Evangelist Johannes.
Wenn einer, so verdiente Johannes den erhabenen Vorzug, der Lieblingsjünger des Heilandes zu sein. Nicht deswegen verdiente er ihn, weil er unter den Jüngern der jüngste, sondern weil er, das darf man wohl sagen, der hingebendste von den anderen war.
Wie in allen edlen Israeliten zu jener Zeit, so brannte auch in dem Fischersohn Johannes die Sehnsucht nach dem verheißenen Messias, den das Volk in heißen Gebeten erflehte und den die Bauern und Hirten in wehmutsvollen Liedern besangen. Als der Vorläufer erschien und das Nahen des neuen Reiches kündete, wurde der junge Fischer vom See Genezareth einer seiner ersten Anhänger.
Doch Johannes der Täufer war nicht das Licht, das in die Welt kommen sollte, er sollte nur Zeugnis geben von dem Licht, und das Zeugnis gab er damals, als er eines Tages seine treuen Jünger Andreas und Johannes an den Heiland verwies. Vom Jordan her folgten die zwei dem Herrn, der gerade vorüberging, und da wurde beiden eine der größten Gnaden zuteil, die es für einen Menschen gibt, die Berufung zum Apostelamt. So tief und beseligend hat der zwanzigjährige junge Mann Johannes das Glück dieser Begnadigung erfasst und erfüllt, dass er sich fünfundsiebzig Jahre später, als er sein Evangelium schrieb, noch genau erinnerte, dass es um die zehnte Stunde gewesen war.
Mit ganzem Herzen schloss sich Johannes dem Meister an, dem zulieb er in rückhaltloser Hingabe alles verließ, und der Heiland seinerseits belohnte die Treue des Jüngers dadurch, dass er ihn offensichtlich bevorzugte. Mit Petrus und Jakobus durfte Johannes bei der Verklärung auf Tabor, bei der Totenerweckung der Tochter des Jairus und im Garten Getsemani zugegen sein. Er wurde mit Petrus vom Herrn ausgesandt, um das Ostermahl vorzubereiten, und dann kam die beseligende Stunde, da er während des Mahles an Jesu Brust und Herz ruhen durfte. Nie hat es auf Erden einen Vorzug gegeben, der größer ist als dieser, dass Johannes der Herzbruder des lieben Heilandes war.
Johannes hinwieder bewährte gleich darauf dem Heiland die Freundestreue, denn als alle anderen Apostel bei der Gefangennahme Jesu flohen, folgte er ihm mutig von fern in das Haus des Annas, und dann begleitete er die Mutter Jesu tröstend auf dem harten Weg nach Golgatha und stand als einziger von den Aposteln unerschrocken drei Stunden lang unter dem Kreuz.
Treu war also Johannes dem Meister bis zuletzt, und diese letzte Treue hat der Herr ihm aufs herrlichste belohnt, denn unter dem Kreuz hat er dem Lieblingsjünger seine Mutter geschenkt. Wie unermesslich reich war doch dieses Erbe! Glücklicher Jünger, dem der Meister seine Mutter schenkte!
Auch nach der Himmelfahrt des Heilandes hat Johannes die Treue hochgehalten, nicht nur dadurch, dass er liebend und ehrend für die Mutter Gottes gesorgt hat, wie nur ein Sohn für die Mutter sorgen kann, sondern auch dadurch, dass er in dem Evangelium, das er schrieb, alle Reden und Aussprüche Jesu aufs getreueste festgehalten hat, und bei jeder Gelegenheit betonte er sein Leben lang das große Vermächtnis seines Herzbruders, das Hauptgebot der Liebe, bis er als Greis von fünfundneunzig Jahren noch unter dem letzten Atemzug die Christen ermahnte und anflehte: „Kindlein, liebet einander! Liebet einander! Liebet einander!“
Beim heiligen Johannes zeigt sich wieder einmal deutlich, dass es vor allem die Treue ist, die dem lieben Heiland am meisten gefällt und für die er am dankbarsten ist. Die Treue hat den heiligen Johannes zum Herzbruder des Heilandes gemacht. Das wollen wir uns also gut merken, dass man durch die Treue zum Herzbruder des Heilandes wird. Doch auch deswegen muss uns der heilige Johannes überaus teuer sein, weil er so gut für die liebe Mutter Gottes gesorgt hat.