Die Prophetin des Fronleichnamsfestes
In ihrem Klösterlein am Fuß des Cornillonberges bei Lüttich kniete eine junge, kaum sechzehnjährige Nonne im Gebet. Da kam mit einem Mal der Geist Gottes über sie. In tiefen Gottesfrieden versenkt, schaute sie ein geheimnisvolles Gesicht: am nächtlich-feierlichen Himmel stand der volle Mond. In wundervollem Silberglanz erstrahlte seine Scheibe. Nur an einer Stelle war ein dunkler Fleck, wie wenn ein Stücklein ausgebrochen wäre oder fehlte. Was das wohl bedeutete? Die Nonne wusste es nicht. Als das Gesicht aber immer wiederkehrte, wurde sie unruhig; sie fürchtete, es könnte gar ein Trugbild des Teufels sein. Zwei Jahre lang flehte sie in heißem Gebet und unter Tränen und ließ auch andere gottinnige Seelen den Himmel bestürmen, dass Gott ihr kundtue, was das Gesicht bedeute.
Endlich kam Licht und Lösung in die bange Frage.
Christus selbst erklärte seiner Braut, der Vollmond sei ein Bild seiner Kirche. In dem dunklen Stück der Scheibe werde angedeutet, dass im Kreislauf des Kirchenjahres noch ein eigenes Fest zu Ehren des allerheiligsten Altarsakramentes fehle, ein überaus gnadenreiches Fest zu Dank und Sühne. Sie, Juliana, sei berufen, die Einführung dieses Festes in der Kirche anzuregen und zu veranlassen.
Die demütige Seele erschrak gewaltig über diesen göttlichen Auftrag. Sie bat und flehte heiß und innig, Gott möge anderen, fähigeren und würdigeren Seelen diese Aufgabe zuweisen. Zwanzig volle Jahre lang wahrte sie, ohne irgendjemand etwas davon zu verraten, im Schreine ihres Herzens dies ihr gottgewordenes Geheimnis, bis endlich nach Gottes Willen die Zeit gekommen war, langsam damit an die Öffentlichkeit zu treten. Doch sollten an die zwanzig weitere Jahre vergehen, bis Juliana die selige Freude erlebte, dass im Jahr 1247 das vom Herrn gewünschte Fest, das hochheilige Fronleichnamsfest, zum ersten Mal, und zwar an der Kollegiatkirche Sankt Martin zu Lüttich, begangen wurde. Wenige Jahre nach ihrem Tod, im Jahr 1264, ordnete Papst Urban IV., der früher Archidiakon in Lüttich gewesen war, die Feier dieses Festes für die ganze Kirche an.
Wer war die selige Juliana? Sie, im Jahr 1193 geboren, und ihr ein Jahr älteres Schwesterchen Agnes waren die einzigen Kinder eines frommen, reichen Paares, das seinen Wohnsitz in Retienne, in der Nähe von Lüttich, in Belgien hatte. Als Juliana erst fünf Jahre alt war, starben die Eltern; doch sorgten sie rechtzeitig dafür, dass ihre beiden Lieblinge für Zeit und Ewigkeit in gute Hände kamen: sie gaben sie nämlich zu den Augustinerchorfrauen am Cornillonberg bei Lüttich. In zarter Fürsorge wurden die Kleinen einer erfahrenen Schwester namens Sapientia auf einer nahen Klostermeierei anvertraut. Gesund an Leib und Seele wuchsen sie tüchtig heran, lernten fleißig Latein und halfen den Schwestern wacker in Stall und Feld. Ein besonderes Vergnügen machte es Juliana, die Kühe zu melken und so die Schwestern und deren Kranken im Aussätzigenspital mit Milch zu versorgen. Gleich darauf konnte man das Mädchen bei seinen Lieblingsschriftstellern, über einem großen, alten Pergamentband, dem hl. Kirchenvater Augustinus oder den Erklärungen St. Bernhards zum Hohenlied gebeugt antreffen.
Schon damals hatte sie Besuche Auswärtiger, auch wenn es Hochgestellte, Bekannte oder Familienangehörige waren, nicht gern. Da man wusste, das Kind besitze die Gabe außergewöhnlicher Frömmigkeit, versuchten einige Besucher es in ein frommes Gespräch zu verwickeln. Umsonst! „Ich bin ja nur eine Küchenmagd und Dienstmädchen der Schwestern! Was wollt ihr von mir Reden über Gott hören? Ja, ich kann Kühe melken, Hühner füttern und solcherlei tun. Was wollt ihr mehr von mir? Könnt ihr mehr und besser von Gott sprechen, dann bitte erzählt mir von ihm! Ich will euch gerne zuhören. So gebührt sich´s besser!“
Umso herzlicher dagegen verkehrte sie mit Kindern und einfachen Leuten. Mit ihnen konnte sie reizend von Gott und dem Heil der Seele plaudern, so wie ein jedes es gerade brauchte. Selbst später, wo sie wegen ihrer Stellung viel mit Adeligen und kirchlichen Würdenträgern zu verkehren hatte, war ihr dieser Verkehr stets eine Pein. Nur aus Nächstenliebe und um Sünden zu verhüten, kam sie zu solchen Unterredungen herbei, tat es aber mit solcher Zurückhaltung und Herzensbeklemmung, dass man es ihr anmerkte, es sei für sie allemal ein wirkliches Fegfeuer.
Dies war bei ihr echte, keine angelernte Demut. Als einst eine hochgestellte Person Juliana nach einer ihr von Gott verliehenen Gnade fragte, entfuhr ihr unwillkürlich zur Entschuldigung das Wort, man solle doch so etwas bei ihr nicht vermuten; sie sei ja nur eine große Sünderin. Nun zählte der hohe Herr eine lange Reihe von Sünden und Lastern auf, vor denen Gott in Gnaden seine kleine Braut bewahrt habe. „Und doch,“ erwiderte Juliana, „kann ich ganz gut all dieser Sünden schuldig sein!“ Wie sie das meine? „Ich verspüre nicht so großen Schmerz und solche Herzensangst, wie es derartige Sünden verdienen, durch die Gott beständig beleidigt wird, und deshalb erachte ich mich all dieser Sünden schuldig!“
Es ist nicht schwer zu raten, wo solche Reinheit und Demut entsprangen: am Altar. Schon früh bemerkte man bei der kleinen Juliana einen besonderen Zug zur Kirche, zum allerheiligsten Sakrament, zur heiligen Messe. Sichtlich ergoss sich jedes Mal ein Strom von Wonne und Gnaden in das reine Herz der unschuldigen Kleinen. Sie war kaum mehr von der Kirche wegzubringen. Und als sie gar das erforderliche Alter erreicht hatte und das Brot der Reinen in der hl. Kommunion empfangen durfte, kannte ihr Glück und ihre Seligkeit vollends keine Grenzen. Vor lauter Ehrfurcht über die Ankunft des göttlichen Gastes hatte sie sich vorgenommen, zur Vorbereitung eine volle Woche lang in strengem Schweigen zu verharren. Man merkte es ihr auch an, wie ungern sie zu solcher Zeit den Mund zum Sprechen öffnete. Auch sagte sie, es fiele ihr gar nicht schwer, einen ganzen Monat ohne alle leibliche Speise zu bleiben. Hätten die Schwestern es ihr nicht verboten, sie hätte es sicher versucht.
Da ihr solche äußere Übungen untersagt waren, schlang sie in umso innigerer bräutlicher Liebe geistigerweise die Arme um den Einziggeliebten ihres Herzens. Und der erwiderte wahrhaft göttlich-freigebig immer mehr mit himmlischen Gaben die Liebe und Treue seiner Braut.
Noch ein junges Mädchen, durfte sich Juliana durch die Jungfrauenweihe und die Ordensgelübde ganz dem Dienst Christi weihen. Sie war eine treffliche Klosterfrau. „Von Jugend an,“ bezeugt ihr alter Lebensbeschreiber, „war sie gegen jedermann dienstbereit, leistete freudig Marthadienste und gab sich zu jeder Arbeit her. Hatte sie in Gehorsam und Liebe ihre Arbeit getan, so blieb sie still für sich, lebte ganz ihrem Gott und war so auch eine echte Maria.“
Mit Erlaubnis ihrer Obern übte sie strenge Enthaltsamkeit. 38 Jahre genoss sie bis zum Abend in strengem Fasten nicht die geringste Speise und dann auch zum Erbarmen wenig. Ihre Natur war schließlich so an diese Lebensweise gewöhnt, dass der Magen vor der gewohnten Stunde die Aufnahme jeglicher Nahrung verweigerte. Kam es nun vor, dass sie auswärts und auf Reisen aus Rücksicht auf andere oder um peinlichen Erklärungen zu entgehen, doch den Versuch machte, etwas von dem Vorgesetzten zu genießen, so hatte sie dabei ihre liebe Not. Endlos kaute sie den Bissen mit den Zähnen; hinunter brachte sie mit bestem Willen nichts. Wohlweislich hielt sie darum in ähnlichen Fällen immer ein Tüchlein bereit, in den sie unauffällig die Speisereste verschwinden ließ. „Essen, Trinken und Sprechen und dergleichen, woran sonst der Mensch ein besonderes Vergnügen empfindet, seien ihr“, so gestand sie einer Vertrauten einmal, „geradezu eine Last“. Nicht besser stand es um den Schlaf, auf den sie ganz wenig, fast gar keine Zeit zu verwenden brauchte. Die Nächte vor den Hochfesten und den höheren Heiligenfesten verbrachte sie meist oder fast ganz wachend im Gebet und in Beschauung.
Überhaupt gewann ihre Frömmigkeit große Kraft im engsten Anschluss an das Kirchenjahr. Christi Geburt und Kindheit begleitete sie mit zartester Liebe und Andacht, und erst sein bitteres Leiden und Sterben entlockte ihrem Herzen die tiefsten Regungen des Mitgefühls und ihren Augen heiße Tränen. Als einst im Chor jenes alte, wundersame Triumphlied des Kreuzes, das „Vexilla regis prodeunt“, „Des Königs Banner wallt voran“, angestimmt wurde, wurde Juliana so in tiefster Seele erschüttert, dass sie vor Leid und Weh laut aufschrie und schleunigst zur Kirche hinausgeführt werden musste. Das Mitleid mit Christi Leiden zehrte von Jahr zu Jahr mehr an ihrem Leben. „Drei Dinge“, bezeugt eine vertraute Mitschwester, „erschöpften von Jugend an ihre Körperkräfte: die auf ihr ruhende Arbeitslast, das beständige Andenken an das Leiden des Herrn und die heftige Sehnsucht und Liebe nach der Vereinigung mit ihrem Schöpfer.“ Wie ergreifend ist, was ihr alter Lebensbeschreiber nach den Angaben der Mitschwestern von den Äußerungen ihrer Frömmigkeit an Christi Himmelfahrt erzählt! Da hielt es Juliana im Haus nicht mehr aus. Mit Gewalt trieb es sie an diesem Tag hinaus ins Freie. Sie musste den Himmel schauen, wohin Christus uns vorangegangen ist. Auch von ihrer Andacht für das Geheimnis der allerheiligsten Dreifaltigkeit und des hochheiligen Altarsakramentes wird uns viel berichtet, ebenso über den Geist der Prophezeiung, wie sie anderen, die schwer versucht, krank oder vom Teufel besessen waren, gar liebevoll und wundersam half, wie sie Reliquienfälschungen aufdeckte und dergleichen mehr...
Nur zwei Züge ihres Tugendbildes seien hier noch eigens hervorgehoben, die uns so recht die tiefe Liebe und Leidenschaft ihres Herzens verraten: der erste ist ihre Liebe und kindliche Verehrung zur allerseligsten Jungfrau Maria. Unter den Muttergottesfesten war ihr das liebste Mariä Verkündigung. Sie hatte ein ganz besonders tiefes Verständnis für das Geheimnis der Menschwerdung Christi. Jenen, die ihr näherstanden, teilte sie vertraulich mit, dass es Maria besondere Freude mache, wenn man oft ihre Worte „Siehe, ich bin eine Magd des Herrn“ bete und im Streben und Ringen nach Tugend gebrauche. Jedes Mal werde dadurch die vollkommene Freude, die in der Stunde der Menschwerdung über Maria kam, in ihrem Herzen erneuert. Eine zarte Vorliebe und Andacht hatte Juliana auch für den Hochgesang Mariä, das Magnifikat. Wenn sie es betete, kam oftmals eine Flut von Seligkeit und Wonne über ihre Seele. Sie hatte die fromme Gewohnheit, zu Ehren der neun Monate, während derer die einzigartige Jungfrau (virgo singularis) den Urheber unseres Heils in ihrem Schoß getragen hatte, das Magnifikat neunmal jeden Tag zu beten. Auch andere, die ihr nahestanden, munterte sie zu dieser gnadenreichen Übung auf. Es scheine ihr unmöglich, versicherte sie, dass jemand, der im Stand der Gnade sei, nicht in jedem, das Seelenheil betreffenden Anliegen erhört werde, wenn er so die glorreiche Jungfrau anrufe. Auch bat sie inständig, diese Übung doch überall, besonders in Nonnenklöstern und bei gottgeweihten Jungfrauen zu verbreiten. „Sie kannte aus eigener Erfahrung“, bemerkte der alte Lebensbeschreiber, „welche Vorteile daraus entstünden. Lag ihr doch der geistliche Vorteil aller sehr am Herzen.“ Manch Erbauliches wäre hier noch anzuführen von ihrem tiefen Geistesblick in die Herzensgeheimnisse anderer, wie widerwärtig ihr der Verkehr mit geistesstolzen Menschen war, und welch geheimnisvolle Wonne sie im Gegenteil empfand, wenn sie mit Personen sprach, die von Herzen demütig und mit Gott vereint lebten.
Die zweite große, oder besser gesagt, die einzige große Neigung und Leidenschaft ihres Herzens war die Liebe zum allerheiligsten Altarsakrament. Ihm galt all ihre Liebe von Jugend an; aus ihr schöpfte sie auch besonders Kraft im Kampf gegen den Erbfeind der Seelen, der mit glühendem Hass, oft fühlbar und sichtbar, diese auserwählte Braut Christi verfolgte. Wie manch andere Heilige besaß auch Juliana eine Art eucharistischen Spürsinn. Einst machte sie bei ihrer Freundin, der seligen Eva, die als Reklusin (Klausnerin) neben der St. Marienkirche zu Lüttich eingemauert lebte, einen Besuch. Nachdem Juliana ihrer Gewohnheit gemäß, erst den Herrn des Heiligtums im Sakrament zu begrüßen, eine Zeitlang im Gebet auf der Kirchenempore zugebracht hatte, kam sie ganz betrübt zu ihrer Freundin und sagte: „Warum wird der Leib des Herrn nach der Messe in dieser Kirche nicht aufbewahrt? Dies geschieht doch sonst in allen anderen Kirchen!“ So war es in der Tat. Aus irgend einem Grunde war das gerade an diesem Tag unterblieben. Als sie das nächste Mal wiederkam, sagte sie nachher mit fröhlichem Gesicht zur Seligen: „Jetzt ist Eure Kirche wirklich reich begütert, da sie mit dem Leib des Herrn ausgestattet ist.“ Und so war es auch.
Werfen wir zum Abschluss dieses Lebensbildes noch einen kurzen Blick auf Julianas äußeren Lebensgang. Auch unsere Gottesbraut musste die ihr von Gott verliehenen außergewöhnlichen Gnadengaben – zu den Höhen der Mystik führt eben kein anderer Weg! – zwischen Disteln und Dornen, auf steilem Kreuzweg, pflücken. Im Jahr 1230 wurde sie zur Vorsteherin und Priorin ihres Klosters gewählt. Schon bald darauf entstand infolge von grundlosen Redereien und Anschuldigungen eine unheilvolle Unruhe, Unzufriedenheit und Aufregung sowohl unter den Nonnen im Kloster, wie unter den Weltleuten in der Stadt. Dazu kam noch, dass der neue geistliche Obere des Klosters, auf unkirchliche, simonistische Weise gewählt, in gehässiger, verleumderischer und gewaltsamer Weise gegen Juliana vorging. Als aller Widerstand nichts mehr nützte, hielt sie es für das beste, dem Unrecht zu weichen. Sie verließ deshalb mit einigen treuen Nonnen das Kloster, wurde aber bald durch ihren Bischof gerechtfertigt und wieder eingesetzt. Unter seinem Nachfolger, einem unwürdigen, weltlich gesinnten Mann, begann für Juliana die Leidenszeit von neuem. Als sogar die blinde Volkswut in einem Aufstand gegen das Kloster und seine heilige Priorin aufgehetzt wurde, verließ Juliana es zum zweiten Mal mit einigen Getreuen. Sie sollte ihr klösterliches Heim nicht mehr wiedersehen. Fortan sollte auch sie, die Braut des zarten Fronleichnams im Tabernakel, auf Erden keine bleibende Wohnstätte mehr haben. Erst versuchte sie, in einigen befreundeten Zisterzienserinnenklöstern, dann bei den Beginen zu Namur, Unterkunft zu finden, und schließlich bei ihrer Freundin, der Zisterzienseräbtissin Imena zu Salzinnes. Doch ein geheimer, fast möchte man sagen, teuflischer Hass und Groll verfolgte die Gottesbraut überallhin und brachte selbst denen, die ihr gastlich Dach und Herberge boten, Unheil und zeitlichen Schaden.
Wie froh und dankbar war sie schließlich, als man ihr eine gerade frei gewordene Reklusenklause, die an die Kirche zu Fosses angebaut war, anbot. Dorthin zog sie sich im Jahr 1256 zurück. Einsam und allein verbrachte sie hier bei ihrem Herrn und Meister im Fronleichnam ihre letzten zwei Lebensjahre. Viel Kreuz und Leid hatte sie ihr Leben lang erduldet, „viele und schwere Krankheiten, Unbilden, Widerwärtigkeiten und Verfolgungen aller Art; doch in all dem hatte sie sich stets gar sanft (suaviter) und stark (fortiter) erwiesen.“ Jetzt kamen neue körperliche Leiden und Schmerzen und warfen sie aufs Krankenlager. Mit rührender Frömmigkeit und Geduld ertrug sie alles.
So nahte der letzte Tag. Ihre treue Freundin, die Äbtissin Imena, war herbeigeeilt und stand am Sterbelager. Da es nicht mehr möglich war, Juliana den Leib des Herrn zu reichen, glaubte die Äbtissin, der sterbenden Heiligen einen großen Trost zu bereiten, indem sie den Vorschlag machte, man solle den heiligen Fronleichnam wenigstens in der Pyxis herbeiholen, damit sie ihrem Herrn und Heiland sich ein letztes Mal empfehlen könne. Doch wie erstaunten die Umstehenden, als Juliana das Anerbieten ernst und ruhig ablehnte: „Nein, meine Herrin! Das wäre Anmaßung!“ – ein Wort, das nur von tiefster, echter Demut eingegeben war, denn sie hielt es für geziemend, dass nicht ihr Herr und Heiland zu ihr, sondern vielmehr sie zu ihm komme. Doch die Äbtissin gab sich noch nicht zu rasch besiegt. Sie drängte die sterbende Freundin und versuchte sie mit allen Mitteln zu überzeugen, wie gnadenreich und tröstlich es sei, ihn, den sie in dieser Welt nicht mehr sehen werde, jetzt noch einmal als Erlöser zu schauen. Auch eine der Nonnen redete ihr vertraulich zu, sich doch dem Wunsch und Willen der Äbtissin zu fügen. Da stimmte sie zu.
Der Priester bekleidete sich also mit weißer Albe und Stola und holte das heiligste Sakrament herbei. Als Juliana das Glöcklein hörte, das man läutete, wenn ein Krankes die Kommunion empfing, flammte noch einmal die Lebenskraft und ihre ganze, heiße Liebe in ihr auf. Mit einem festen Ruck richtete sich die Sterbende von ihrem Lager auf und erwartete sitzend den göttlichen Gast. Der Priester kam, enthüllte das heilige Gefäß, entnahm ihm ehrfurchtsvoll eine heilige Hostie, zeigte sie der sterbenden Heiligen und sprach: „Seht da, Herrin, Euren Heiland, der sich herabgelassen hat, für Euch geboren zu werden und zu sterben. Bittet ihn, er möge Euch vor Euren Feinden behüten und Euer Führer sein!“ Da richtete Juliana ein letztes Mal fest und gläubig den Blick auf den, der ihr im Sakrament gezeigt wurde, und sagte: „Amen!“
Weiter sprach sie nichts mehr, lehnte ihr Haupt aufs Lager zurück und verschied – es war am 5. April im Jahr des Heils 1258.
„Bitte jetzt, glückselige Jungfrau“, schließt ihr alter Lebensbeschreiber – es soll auch unser Schlussgebet sein – „bitte deinen geliebten Bräutigam, dass er meine Schritte auf seinen Pfaden bewahre, auf dass meine Schritte im Glück wie im Unglück nicht wanken, und dass auch ich, auf dem Weg seiner Gebote gehend, von Tugend zu Tugend fortschreite. Amen.“