(Symbolbild Kartäuser)
Im Jahr 1087 erschien an der Klosterpforte der Großen Kartause bei Grenoble in Frankreich ein junger Mann, namens Lanuin. Als Spross einer hochadeligen Familie der Normandie um das Jahr 1050 geboren, hatte er, unter Verzicht auf sein Erbteil, der Welt entsagt, um in der Einsamkeit die Lebensweise der Engel zu führen. Der heilige Bruno nahm den gottbegeisterten mit Freuden auf. Unter dessen Leitung machte Lanuin, dem Gott reiche Gaben des Geistes und des Herzens verliehen hatte, auf der Bahn der Vollkommenheit solche Fortschritte, dass er nach Ablauf von drei Jahren würdig war, statt eines Schülers der treue Gefährte und unzertrennliche Freund des heiligen Ordensstifters zu werden.
Als Papst Urban II. 1090 den heiligen Bruno, seinen ehemaligen Lehrer zu Reims, nach Rom berief, um sich seiner Ratschläge für die Leitung der Kirche zu bedienen, musste Lanuin den Heiligen dahin begleiten. Die Reife seines Geistes, der Eifer seiner Frömmigkeit, die von ihm bewiesene Willensstärke ließen ihn dem heiligen Bruno als bestgeeigneten Helfer für die Lösung der ihm gestellten Aufgabe erscheinen.
Papst Urban wies ihnen eine Wohnung in Rom an, wo sie mehrere Monate hindurch ein stilles, zurückgezogenes Leben zu führen suchten. Der Lärm der Weltstadt indes erweckte in ihnen die Sehnsucht nach der Einsamkeit. Ihr Wunsch fand auch bald seine Erfüllung. Graf Roger von Kalabrien und Sizilien machte den beiden Ordensmännern im Bistum Squillaci einen Ort, La Torre, mit allen Ländereien im Umkreis von einer Stunde Weges zum Geschenk, damit sie daselbst eine klösterliche Niederlassung nach der Kartäuser-Ordensregel einrichten sollten. Noch in demselben Jahr siedelten sie in dieses neue Heim über, das ihnen die göttliche Vorsehung so liebevoll bereitet hatte. Wiederholt berief Papst Urban den heiligen Bruno von La Torre nach Rom. In dieser Zeit der Abwesenheit war es dann Lanuin, der die Klostergemeinde leitete. Bald erhielt die Ordensniederlassung so starken Zuwachs an neuen Mitgliedern, dass es nötig wurde, eine zweite Einsiedelei und zwar in der Nähe der ersten zu errichten, wofür Graf Roger wieder seine schon einmal bewiesene Opferwilligkeit in hervorragender Weise betätigte. Als Prior dieses zweiten Ordenshauses, das dem heiligen Stephanus geweiht war, wird der selige Lanuin genannt. So wurde diesem denn nicht bloß die Ehre zuteil, vor allen anderen geistlichen Söhnen in den Urkunden neben St. Bruno gestellt zu werden, sondern auch die Gemeinschaft des Amtes mit ihm inne zu haben.
Sechs Jahre hindurch bekleidete Lanuin dieses Amt, das er erst auf Zureden des heiligen Bruno anzunehmen sich entschließen konnte. Ein ausgebreitetes Wissen, verbunden mit außerordentlicher Klugheit, tiefe Demut und pünktliche Treue in der Beobachtung der Ordenssatzungen, machten ihn zu einem vortrefflichen Vorsteher dieser neuen Klostergemeinde und erwarben ihm die stets wachsende Verehrung der Außenwelt. Welchen Eindruck das heilige Leben der beiden Männer in den höchsten Kreisen machte, beweist die Tatsache, dass im Jahr 1095 Bruno die Taufe des nachmaligen ersten Königs von Sizilien vorzunehmen hatte, wobei Lanuin Patenstelle vertrat. Wenn später Roger II. – so hieß dieser König – in den Kirchenbann fiel, so dürfte seine Bekehrung auch wohl wesentlich der Fürbitte der beiden selig Verklärten zuzuschreiben sein, auf Grund der Lehre von der Gemeinschaft der Heiligen.
Welch einen Schatz von Güte Lanuin in seinem Herzen barg, zeigte sich im Jahr 1099, als Graf Roger hundertzwölf seiner Untertanen, die wegen Empörung das Leben verwirkt hatten, dahin begnadigte, dass er sie dem heiligen Bruno als Leibeigene überließ oder „schenkte“. Lanuin erwirkte sich von Roger eine Urkunde, wonach diesen Untertanen des Klosters von St. Stephan so viel Rechte gewährt wurden, dass sie bloße Erbpächter und Zinsleute mit bestimmten Leistungen wurden. Natürlich sorgte er mit St. Bruno für ihre geistlichen Bedürfnisse und die Erziehung ihrer Kinder, schützte sie gegen Gewalttat und bestrafte ihre Vergehen mit christlicher Liebe. So konnten sich diese Leibeigenen glücklich schätzen, unter der milden Herrschaft der Mönche zu leben.
Kaum hatte Lanuin seinen hohen Gönner, den Grafen Roger, zu einem seligen Tod vorbereitet, als drei Monate später – am 6. Oktober 1101 – sein geistlicher Vater, der heilige Bruno, das Zeitliche segnete. Lanuin erwies den sterblichen Überresten seines geliebten Meisters und Freundes die gebührenden letzten Ehren und hielt selbst das feierliche Seelenamt. Wer sollte nun an Stelle des heimgegangenen Ordensstifters die Leitung des Klosters Santa Maria übernehmen? In beiden Genossenschaften glaubte man keine bessere Lösung, die auch zugleich der Willensmeinung des teuren Entschlafenen am meisten entsprach, zu finden, als dass dem seligen Lanuin die Regierung der zwei Häuser übertragen wurde. Die Vorsehung war hier offenbar mit im Spiel, da zu dieser Zeit sich gewisse Strömungen im Orden geltend machen wollten, wonach man das gemeinschaftliche klösterliche Leben einführen sollte.
Lanuin war wie kein zweiter berufen, durch seinen Eifer und die gleiche Gesinnung mit seinem ehemaligen Lehrmeister, das Einsiedlerleben in der ganzen bisherigen Strenge im Marienkloster aufrecht zu erhalten. Papst Paschalis II. beglückwünschte in einem besonderen Schreiben den seligen Lanuin zu seiner Wahl. Er rühmt an ihm sein mildes Wesen, das in der Tat ein hervorragender Charakterzug des seligen Lanuin war. Dienstgefällig gegenüber allen, war er der Ratgeber weltlicher und geistlicher Herren, seine Gutmütigkeit gewann ihm die Herzen aller Rechtschaffenen, die Armen und Gäste erfuhren seine besondere Aufmerksamkeit. Man wusste indes in Rom recht wohl, dass, so gutmütig, gefällig und friedfertig Lanuin zur rechten Zeit sein konnte, er ebenso mutig und entschlossen auch, wenn es nicht anders möglich war, den Frieden und die Beliebtheit zu opfern bereit sein würde.
Papst Paschalis sandte ihm ein ehrenvolles Schreiben, worin er ihn ersuchte, um die nächste Fastenzeit nach Rom zum apostolischen Stuhl zu kommen und zugleich die Ordnung in der Abtei von St. Julian, die vom damaligen Abt gestört worden war, wiederherzustellen. Lanuin traf um die Mitte der Fastenzeit des Jahres 1102 in Rom ein, wo er eine große Anzahl Kirchenfürsten Apuliens, Siziliens und Italiens zu einer Synode versammelt fand, der er nun gleichfalls beiwohnte und auf der es sich wahrscheinlich um die Beilegung der die Kirche damals bedrängenden Spaltung handelte. Wenige Monate nach seiner Rückkehr empfing er ein neues apostolisches Schreiben mit Aufträgen, an verschiedenen Orten simonistische Missbräuche zu beseitigen. Man hatte in ihm zu Rom den passenden Mann entdeckt zum Kampf wider den sein Jahrhundert entehrenden Handel mit geistlichen Ämtern. Immer höher stieg das Vertrauen des Papstes. 1105 wurde Lanuin mit der Reform einer Reihe von Klöstern betraut und ihm die Befugnisse eines General-Visitators über die benachbarten Klöster verliehen. Nicht ohne Grund schließt man daraus, dass Lanuin für Paschalis II. das war, was Bruno für Papst Urban II. gewesen war. Er erlangte denn auch vom Papst die bisher noch nicht gewährte Vollmacht, jeglichen Angriff auf die Mönche seines Klosters oder auf ihre Güter gegebenenfalls mit der Exkommunikation zu bestrafen, weil der zuständige Diözesanbischof solches zu tun sich weigerte.
Das letzte Werk vor seinem Tod war die Gründung eines dritten Klosters im Jahr 1114. Darin sollten nach seinem Plan jene Aufnahme finden, denen der Beruf zum Einsiedlerleben fehlte und die dennoch nimmer in die Welt zurückkehren wollten. Es fand sich bald, dass am besten das gesamte Noviziat in das neue Ordenshaus verlegt und von da aus jeder Novize, an dem man Beruf zum Einsiedlerleben entdeckte, einfach in das Kloster zur heiligen Maria oder das minder strenge Kloster zum heiligen Stephanus aufgenommen wurde. Nach dieser Gründung, die wiederum Zeugnis ablagt vom praktischen Sinn des Seligen besonders im Interesse des Seelenheils für seine Untergebenen, konnte er sich noch einige Jahre bei zunehmender körperlicher Schwäche wieder mehr jener Einsamkeit widmen, die er sein Paradies zu nennen pflegte. Der 11. April 1116 sollte ihn endlich mit seinem geistlichen Vater auf ewig in der Glorie des Himmels vereinigen. Ein glücklicher Umstand fügte es, dass seine leibliche Hülle an dem Ort beigesetzt wurde, der fast zwei Jahrzehnte die kostbare Leibeshülle des heiligen Vaters Bruno in sich barg.
Zahlreiche Gebetserhörungen und Wunder verherrlichen während neun Jahrhunderten das Grab dieses Dieners Gottes und jetzt noch ist seine Verehrung im Süden Italiens so lebendig, dass Papst Leo XIII. davon Veranlassung nahm, im Jahr 1893 seine Seligsprechung zu erklären.
Die Welt zu verlassen, nur in der Einsamkeit Gott zu dienen, ist ein heiliges und empfehlenswertes Werk, aber nur dann, wenn man auch die Welt in sich zum Schweigen bringt. Gott teilt sich nur einer Seele mit, die sich losgeschält hat von den Geschöpfen und freigemacht hat von der Eigenliebe. Nicht jeder kann die Einsamkeit aufsuchen, aber jeder kann sein Herz zu einer Einsiedelei machen, wo er im trauten Umgang mit Gott eine Süßigkeit des Friedens genießt, den die Welt nicht kennt und nicht geben kann.
(Maria Beschützerin der Kartäuser)