England, die Mutter zahlloser Heiligen jener Zeit, war auch die Heimat des heiligen Lebuin oder Liafwin. Schon von früher Jugend weihte sich Lebuin ganz dem Dienst Gottes, so dass man auf ihn die Worte Salomos anwenden konnte: „An seinen Übungen erkennt man den Knaben, ob seine Werke rein und recht sind.“ Mit den zunehmenden Jahren vermehrte sich sein heiliger Eifer, so dass es keine Tugend gab, die in seinem unschuldigen Leben nicht hervorleuchtete.
Nachdem Lebuin die Priesterweihe empfangen hatte, zügelte er noch mehr seine Augen vor jedem gefährlichen Blick, seine Ohren vor ungeziemenden Reden, seine Zunge vor eitlem Geschwätz und unpassenden Scherzen, sein Gang war demütig und züchtig, seine ganze Haltung ehrfurchtgebietend. Seine tägliche Übung bestand darin, Gott aufs eifrigste zu verehren, zu wachen und zu beten, die heiligen Wissenschaften zu pflegen, die Regungen des Fleisches mit Fasten zu zähmen und die geistlichen Obliegenheiten im Tempel zu verrichten.
Als einst der eifrige Diener Gottes inbrünstig flehte, der Herr möge ihm offenbaren, wie er ihm am besten dienen könne, hörte er eine Stimme, die ihn ermahnte, dass er an der Issel, einem Fluss in Friesland, sein apostolisches Werk beginnen solle. Freudig folgte Lebuin dem Wink des Allerhöchsten, verließ sein Vaterland und reiste nach Utrecht, wo sich der heilige Abt Gregor außerordentlich über den Entschluss Lebuins erfreute und ihm den heiligen Marcellin, einen geborenen Engländer und Zögling des Kollegs in Utrecht, zugesellte, damit er ihn zur Issel begleitete.
Lebuin nahm seinen ersten Wohnsitz in dem Dorf Wilp, wo ihn eine katholische Witwe, namens Avenhild, gastfreundlich aufnahm. Dort predigte der Heilige mit einem solchen Eifer, dass sich in kurzer Zeit viele Bewohner taufen ließen, denen er eine Kapelle baute, um dort das heilige Messopfer zu feiern und die katholische Lehre zu verkünden. Bald fasste die Kapelle die Menge der Gläubigen nicht mehr. Deshalb baute er auf der anderen Seite des Flusses, wo jetzt die Stadt Deventer steht, eine größere Kirche und daneben eine Wohnung. Fast kein Tag erschien, wo sich nicht mehrere Menschen taufen ließen und ein christlich-frommes Leben begannen. Die Liebenswürdigkeit, die Herzensreinheit, die Freigebigkeit gegenüber den Armen und eigene Enthaltsamkeit des Heiligen zogen die Herzen des Volkes mächtig an.
Als die heidnischen Sachsen vernahmen, dass die benachbarten Friesen bereitwillig die christliche Lehre annahmen, fielen sie mit großer Heeresmacht in deren Land, verwüsteten Deventer mit Feuer und Schwert und mordeten die Christen, die nicht flüchteten. Lebuin würde dem Mordstrahl nicht entgangen sein, wenn ihn die mächtigere Hand Gottes nicht gerettet hätte. Nach dem Abzug der Sachsen baute Lebuin die eingeäscherte Kirche zu Deventer wieder auf und fasste den kühnen Entschluss, unter den ungezähmten Sachsen selbst das Evangelium zu verkünden.
Während die Edellinge, die Freien und Volksmänner der Sachsen zu Marcklo in der Grafschaft Hoya an der Weser eine Volksversammlung abhielten, um über Krieg und Frieden zu beraten, Streitigkeiten zu schlichten und Recht zu sprechen, erschien plötzlich Lebuin in ihrer Mitte und redete zu der erstaunten Versammlung: „Merket auf und wisset, dass der Herr, der Schöpfer Himmels und der Erde, des Meeres und aller Dinge, der einzig wahre Gott ist. Er hat uns gemacht, nicht wir selbst, und es ist kein anderer, außer ihm. Die Bildnisse, die ihr als Götter verehrt, sind Gold und Silber, Erz, Stein und Holz, sie leben nicht, bewegen sich nicht, fühlen nicht, denn sie sind Werke von Menschenhand. Der allein gute, gerechte und barmherzige Gott hat mich zu euch gesandt, dass ihr euren früheren Irrtum bereut und euch aufrichtig zu ihm kehrt. Wenn ihr ihn gläubig anerkennt, Buße tut und euch taufen lasst und seine Gebote gehorsam haltet, so wird er euch von allen Übeln bewahren, den Frieden schenken, mit zeitlichem Überfluss erfreuen und im zukünftigen Leben mit ewigen Gütern beglücken. Wenn ihr aber seine heilsamen Vorschriften für nichts achtet und den Irrtum eures verdorbenen Herzens nicht bessern wollt, so wisset, dass euch die Strafgerichte Gottes ereilen werden.“
Über die kühne Rede des verhassten Missionars wurden die Sachsen derart ergrimmt, dass sie Pfähle aus den Zäunen rissen, um den verwegenen Eindringling tot zu schlagen. Einige indes wurden im Herzen gerührt, und unter ihnen sprach der Fürst Boto: „Hört, ihr Männer! Wir nahmen die Gesandten der Normannen, Slaven und Friesen ehrenvoll auf und entließen sie reich beschenkt. Seht, hier ist der Gesandte des höchsten Gottes, der uns die Gebote des Lebens und unseres Heils bringt, und von uns nicht allein verhöhnt und verachtet, sondern auch beleidigt und mit dem Tode bedroht wird. Wie groß die Macht seines Auftraggebers sei, zeigt klar seine wunderbare Rettung aus euren Händen. Daher werdet ihr auch erfahren, wie wahr seine Drohungen sein werden, die er im Namen seines Gottes uns ankündigt.“ Durch diese Drohworte wurden die Wütenden eingeschüchtert und man beschloss allgemein, niemand solle den Gesandten Gottes angreifen, unbehelligt könne er gehen, wohin er wolle.
Unterdessen kehrte Lebuin in die Gegend der Issel zurück und erschöpfte sich in apostolischen Arbeiten. Den ersehnten Martertod erlitt er nicht, jedoch stand er ohne Blutvergießen eine Art beständigen Martertodes aus, denn er kreuzigte täglich seinen Leib, litt Hunger und Durst, Kälte und Blöße, fastete, wachte und betete ohne Unterlass. Abwechselnd ging er von den Friesen zu den Westfalen, predigte beiden Völkern die wahre Religion und Frömmigkeit und wird mit Recht beider Lehrer und Apostel genannt.
Lebuin starb um das Jahr 770, am 12. November, und wurde in dem von ihm erbauten Tempel zu Deventer begraben. Drei Jahre später machten die Sachsen unter Widukind einen Einfall in Holland, verwüsteten die Kirche zu Deventer, fanden aber das Grab des Heiligen nicht. Nachdem Karl der Große die Sachsen vertrieben hatte, schickte Abt Gregor den heiligen Ludger, damals noch Diakon der Kirche zu Utrecht, nach Deventer, um unter dem Schutt der eingeäscherten Kirche die Reliquien des heiligen Lebuin aufzusuchen. Dieser erschien in der Nacht dem heiligen Ludger und zeigte ihm die Stelle seines Grabes, das in der Tat am anderen Morgen dort aufgefunden wurde. An Wundern reich ruhen die Gebeine des heiligen Lebuin in der Stiftskirche, die nach seinem Namen benannt wurde.