Unter der Regierung des römischen Kaisers Marcus Antonius Verus und seines Bruders Aurelius Commodus lebte in Britannien König Lucius. Dieser König beobachtete das Leben der Christen in seinem Reich und fand an ihrem untadelhaften Lebenswandel, ihren reinen Sitten und hervorragenden Tugenden großes Wohlgefallen. Er schickte daher zwei Abgeordnete, Elvon und Meduin, nach Rom zum Papst Eleutherius, mit der Bitte, ihm Glaubensboten zu senden, damit sie ihn und sein Volk in der christlichen Religion unterrichteten, denn die Wunder, die die Schüler Christi unter den verschiedenen Völkern wirkten, hatten seinen Geist erleuchtet, und von der Liebe zum wahren Glauben erglühend, erreichte er das Ziel seiner Bitte. Der Papst schickte ihm zwei apostolische Männer, Fuganus und Damian, die die Menschwerdung des Gottessohnes verkündigten, ihn zu Christus bekehrten und mit einer großen Menge seines Volkes tauften. Die Glaubensboten verdrängten überall im Land das Heidentum und weihten die Götzentempel zum Dienst des wahren Gottes ein. An die Stelle der 27 Götzenpriester und 3 Oberpriester setzten sie ebenso viele Bischöfe und Erzbischöfe. Darauf sind sie wieder nach Rom gegangen, um ihre Anordnungen vom Papst bestätigen zu lassen und später mit vielen anderen Priestern nach Britannien heimgekehrt, durch deren Lehre das Volk der Briten in kurzer Zeit im Glauben Christi befestigt wurde. Lucius war der erste christliche König in Europa.
Einige Jahre später kam ein Pilger, namens Lucius, ein Mann von edler Gestalt und ehrwürdigem Aussehen nach Augsburg und verkündete dort das Evangelium. Dieser Lucius soll der erwähnte König von England gewesen sein, der der Krone und den Freuden und Ehren der Welt entsagte, um das Seelenglück, das er im Christentum genoss, auch anderen Völkern zu bringen. Mit großem Eifer predigte er das Evangelium und mehrere Bürger der Stadt glaubten durch ihn, unter ihnen der angesehene Campestrianus mit seinem ganzen Haus. Die übrigen Bürger verharrten im Heidentum, hassten den Fremden und verfolgten ihn mit Steinwürfen, ja sie stürzten ihn in einen Schöpfbrunnen, aus dem er halbtot von Gläubigen wieder herausgezogen wurde. Unter liebreicher Pflege erholte er sich wieder.
Darauf ging er am Lechfluss hinauf ins Hochgebirge und predigte überall die christlichen Wahrheiten. Unter vielen Beschwerden und Gefahren drang er durch die Gebirge bis nach Rätien, dem heutigen Graubünden, und wohnte dort, wo später die Stadt Chur entstand, in einer schwer zugänglichen Berghöhle, nach ihm Luciushöhle genannt.
Nachdem Lucius sieben Tage mit Fasten und Beten in dieser Felsenhöhle zugebracht hatte, begab er sich unter das Volk, um ihm den Glauben an den einen wahren Gott und seinen Sohn Jesus Christus zu verkünden, der der Weg, die Wahrheit und das Leben für jeden Menschen ist. Die Bewohner des Landes waren aber so wild und roh, dass sie von der milden Lehre Christi nichts hören wollten. Sie beteten Sonne und Mond an und erwiesen den wilden Auerochsen, die sich in ihren schauerlichen Wäldern aufhielten, göttliche Verehrung. Um sie von der Torheit ihres Götzendienstes zu überzeugen, fing der ritterliche Lucius ein paar Auerochsen, spannte sie ins Joch, belud einen Karren mit Holz und fuhr mit ihnen seiner Höhle zu. Die Heiden staunten und riefen: „Groß ist der Gott der Christen, der seinem Diener die wilden Tiere unterwürfig macht.“ Sie horchten jetzt folgsamer auf seine Predigt und viele bekehrten sich zum Glauben an Christus.
Emerita, die Schwester des Königs Lucius, war mit ihm im Glauben unterrichtet und getauft worden. Als ihr Bruder Britannien verlassen hatte, um den in den Todesschatten des Heidentums sitzenden Völkern das Licht der Wahrheit anzuzünden, entschloss sie sich, ihren Bruder aufzusuchen und in seiner Missionstätigkeit zu unterstützen. Nach langen Reisen fand sie ihren Bruder in der Luciushöhle. Von Jugend auf an Werke der Mildtätigkeit gewöhnt, besuchte sie die Kranken, unterstützte die Armen, tröstete die Traurigen und half den Bedrängten. Mit allem Eifer versuchte sie die Heiden von ihrem Irrwahn zu überzeugen und zum Christentum zu führen. Aber die rohen Heiden erregten einen Aufstand gegen sie, ergriffen sie, schlugen sie mit Fäusten und warfen sie in ein schauriges Gefängnis des alten Bergschlosses bei Trimmis. Am folgenden Morgen, den 4. des Christmonats, wurde sie unter wütendem Geschrei des Volkes aus dem Gefängnis geführt und verbrannt. Sie starb voll christlichen Heldenmutes und vereinte mit dem Jungfrauenkranz die Marterkrone. Die Asche und Gebeine der Märtyrin wurden gesammelt, in ein Tuch gewickelt und in der Erde verborgen. Am Marterplatz zu Trimmis wurde später ihr und dem heiligen Apostel Andreas zu Ehren eine Kirche gebaut. Die Gebeine der heiligen Emerita wurden in der Kathedralkirche zu Chur aufbewahrt und verehrt. Ihr Fest wird am Tag nach dem Fest des heiligen Lucius, am 4. Dezember, gefeiert.
Sobald Lucius die schauerliche Nachricht von der grausamen Hinrichtung seiner unschuldigen Schwester vernahm, eilte er mit einigen Christen unverweilt nach Trimmis, fand aber auf der Brandstätte nur noch ihre Gebeine. Tief betrübt sammelte er die Reliquien und hüllte sie in einen Schleier, der sich noch in ihrer Wohnung vorfand. Die Mörder hinderten ihn nicht, denn die besseren waren empört über das grauenvolle Unrecht, das man ihrer Wohltäterin angetan hatte.
Lucius arbeitete und litt noch unsäglich viel, bis er am 3. Dezember 182, von den Heiden gesteinigt, sein segensreiches Leben schloss. Der erste christliche König Europas, der erste Bischof von Chur und Apostel von Rätien, Lucius, wohnte demütig und weltverachtend in einer Felsenhöhle, aber diese wurde durch seine Gegenwart geheiligt und bald allgemein verehrt. Fromme, gottesfürchtige Leute, Kranke, Presshafte pilgerten zum Luciusbach, und erhielten durch die Fürbitte des Heiligen oft wunderbare Hilfe. Ein schönes Kloster wurde neben der uralten Kirche zu Chur gebaut und St. Luciuskloster genannt.