Zisterzienserin im 14. Jahrhundert
Ein wahrhaft mystisches Leben ist der Widerschein und das Widerspiel des Übernatürlichen und Himmlischen in einer Menschenseele. Mancher Christ strebt danach und glaubt es zu leben. Aber nirgends ist die Gefahr einer Täuschung sowohl der eigenen Person als der anderen größer als bei sogenannten mystischen Zuständen. Die Probe auf die Echtheit kann nur geliefert werden durch beharrliche Tugendübung in aller Demut und Einfalt des Herzens und durch geduldiges Ertragen der Leiden, mit denen Gott eine solche Seele immer heimsucht. Diesen Beweis nun hat die gottselige Lukardis wohl erbracht und darum glaubt der Legendenschreiber dir heute erzählen zu dürfen von den gnadenvollen und wunderbaren Zuständen, deren Gott sie gewürdigt und die ihr Beichtvater, der Dominikaner Eberhard von Mülhausen, uns aufgezeichnet hat.
Die ehrwürdige Lukardis ist wahrscheinlich 1276 im Thüringischen geboren. Schon früh zeigte sich ihre außergewöhnlich mystische Veranlagung. Als sie mit zwölf Jahren in das Zisterzienserinnenkloster Oberweimar kam, begann sie beim ersten Betreten des Chores vor dem großen Kreuz mit ausgespannten Armen in Verzückung zu beten. Bald darauf sah sie im Geist den Tod und das Begräbnis ihrer Mutter, ohne dass sie irgendwie Kunde von außen erhalten hätte. Ihr ganzes Gehaben war bereits das einer reifen Jungfrau, deren höchste Freude war mit dem lieben Gott zu verkehren. Nach der Profess vertraute man ihr deshalb auch gleich die Sorge für die Kranken an. Nur ein halbes Jahr war Lukardis Krankenschwester, da begannen bei ihr selbst eigentümliche Krankheitserscheinungen aufzutreten. Abgesehen von einem periodischen Fieber und einem Steinleiden wurde sie von einem schweren Nervenleiden heimgesucht, das manchmal in seltsamen Zuständen sich auswirkte. Manche ihrer Mitschwestern glaubten, sie sei von einem bösen Geist besessen, und die Ärzte plagten sie mit allerlei Medizinen, die zwar im Gehorsam von ihr genommen wurden, aber nichts helfen konnten oder die Sache nur schlimmer machten. Von ihren Mitschwestern erhielt Lukardis anfangs nicht die genügende Pflege. Gar oft lag sie da in Nacht und Finsternis und konnte sich nicht helfen, wenn die Nerven den Dienst versagten; oder sie litt bittersten Durst und niemand reichte ihr ein Tröpflein Wasser. Freilich, eine Klage hörte man nicht aus ihrem Mund. Wenn eine Schwester ihr Bedauern aussprach, dass sie so in Finsternis habe liegen müssen, erwiderte sie heiteren Angesichts: „Der barmherzige Gott hat mich mit seinem Licht nicht vergessen“, und wenn eine Schwester fragte, ob sie nun zu trinken wünsche, erhielt sie zur Antwort: „Es kam eine hohe Frau, die hat sich meiner erbarmt und mich mit einem gar köstlichen Trank erquickt.“ Die Heiterkeit und Sanftmut ihres Gemütes verlor die selige Lukardis überhaupt nie, auch nicht in ihren größten und sonderbarsten Schmerzen. Sie trug in sich die feste Überzeugung, dass sie dem Herrn Christus möglichst gleichförmig werden müsse und dürfe. Und das war ihr nie versiegender Trost.
Nach zehn Jahren nahm das Leiden der seligen Lukardis einen mehr friedlichen Charakter an. Sie wurde wie gelähmt und musste dauernd das Bett hüten. Ihre Liebe zum gekreuzigten Heiland wuchs von Tag zu Tag und führte schließlich zu einer wunderbaren Verähnlichung und Vereinigung mit Christus, wie sie nur wenigen Heiligen zuteilwurde. Lassen wir ihren Beichtvater erzählen: „Die Gottesmagd trug in sich das glühendste Verlangen und pflegte inständigst darum zu beten, Gott möge ihr nach dem Übermaß seiner Gnade verleihen, dass nimmer das beständige Andenken an sein bitteres Leiden aus der Tiefe ihres Herzens entschwinde, sondern immer lebendig und gleichsam frisch blutend vor den Augen ihres Herzens stünde, auf dass dadurch ihre Andacht und ihr Dank zu größerer Glut entfacht würden. In diesem Sinn betete sie öfters mit dem Propheten: „Herr, vor dir ist alle meine Sehnsucht und mein Seufzen ist dir nicht verborgen.“ Und Gott goss über seine Magd die Fülle seiner Barmherzigkeit aus und gab ihr noch dazu, was ihr Gebet nicht verlangt hatte; sie wurde schließlich erhört nach dem Maß ihres Verlangens. Einst hatte sie folgendes Gesicht: Sie musste durch eine Tür hineingehen und dort fand sie Christus, gleich als wäre er eben ans Kreuz geheftet worden, zerrissen von Geißelstreichen und zum Erbarmen mit seinem Blut übergossen. Die Gottesmagd schaute den Herrn voll Bedauern an und fiel wie entseelt zu seinen Füßen nieder. Der Herr aber sprach zu ihr: „Steh auf, damit du mir helfen kannst!“ Da erkannte sie, dass sie ihn nicht bloß durch das Andenken an sein Leiden, sondern auch durch eifriges Mitleiden unterstützen müsse. Durch die Worte des Heilandes wieder einigermaßen zu Kräften gekommen, antwortete sie zaghaft: „Wie kann ich dir denn helfen, mein Herr?“ Und sie schlug wieder die Augen auf und sah den rechten Arm des Heilandes losgelöst vom Kreuz und jämmerlich herabhängen, wodurch der Schmerz des Heilandes stark vermehrt zu sein schien. Die liebe Magd trat also vor Mitleid hinzu und versuchte mit einem Seidenband den Arm ans Kreuz zu binden, aber sie brachte es nicht fertig. Sie hob daher mit ihren Händen den Arm des Heilandes empor und stützte ihn unter Seufzen. Da sprach der Herr: „Füge deine Hände in meine Hände und deinen Fuß an meine Füße und schmiege deine Brust an meine Brust und so wird mir wieder geholfen werden von dir, dass ich es wieder leichter habe.“ Während nun die Gottesmagd so tat, fühlte sie im selben Augenblick in ihren Händen und in ihren Füßen und in ihrer Brust den schneidend scharfen Schmerz der Heilandswunden.“
Dieser Schmerz blieb der seligen Lukardis von da an und oft klopfte sie mit den Fingern auf die Stellen, um die Schmerzen der Annagelung sich möglichst zu vergegenwärtigen. Nach außen traten die Wundmale erst zwei Jahre später zu Tage. In der Nacht auf das Fest des heiligen Papstes Gregor des Großen sah sie einen überaus schönen und feinen Jüngling, mit fünf Wundmalen gezeichnet. Voll Liebe näherte er sich, umschloss ihre rechte Hand fest in der seinen und sprach zu ihr: „Ich will, dass du mit mir leidest.“ Als sie ihr Jawort gab, erschien im selben Augenblick an ihrer rechten Hand das Mal der Wunde. Nach zehn Tagen wiederholte sich das gleiche Wunder an der linken Hand und im Verlauf der gleichen Frist erhielt sie auch noch die anderen Wundmale. Später zeigten sich an ihrem Körper auch noch die Striemen der Geißelung und an ihrem Haupt die Stiche der Dornenkrone. Die vielen Wunden verursachten der Seligen viele Pein. Sie selbst äußerte sich einmal: „Der Schmerz ist so, als wenn ein Nagel fortwährend auf der einen Seite hineingebohrt und dann auf der anderen herausgezogen würde.“ An Sonntagen war der Schmerz immer geringer. Seinen höchsten Grad erreichte er am Freitag, wo die Wundmale immer frisch bluteten. In all ihren Leiden aber, mochten sie nun auf ihre Krankheit oder übernatürliche Ursachen zurückgehen, blieb Lukardis immer voll seligen Glücks, voll Heiterkeit und Freundlichkeit, sodass all ihre Mitschwestern sie von Herzen liebten und in Sorge für sie wetteiferten. Die leidende, zu keiner Arbeit fähige Lukardis galt als der größte Schatz des Klosters.
Die Einprägung der Wundmale (Stigmatisation) in der Form, wie sie der seligen Lukardis und anderen Heiligen zuteilwurde, ist etwas Wunderbares und wir sind von vornherein geneigt eine so begnadete Person als Heilige zu bezeichnen. Und doch dürfen wir nicht vergessen: ein untrügliches Merkmal der Heiligkeit ist die Stigmatisation nur dann, wenn sie verbunden ist mit wahrhafter Demut. Und das war bei der seligen Lukardis der Fall. Beim ersten Auftreten der wunderbaren Gebetsgnaden und übernatürlichen Zustände regte sich in ihr der Zweifel, ob sie nicht eine Versuchung des Teufels seien, der sich mit Gottes Zulassung in einen Engel des Lichts verwandle. Lange Zeit war sie geneigt alles für Einbildung und Selbsttäuschung zu erklären. Erst eine eingehende Prüfung durch den Dominikaner Heinrich von Mülhausen gab ihr einige Beruhigung. Volle Sicherheit und Klarheit erhielt sie erst durch die Gnadeneinwirkung Gottes selbst. Als die Wundmale sich an ihr offenbarten, umwickelte sie sie mit Leintüchlein, gleich als ob sie weiße Handschuhe tragen müsste. Auf die Dauer konnte sie natürlich die Gottesgnade nicht geheim halten und ihr Beichtvater befahl ihr, sie solle nur die Wundmale zeigen, damit Gott dadurch verherrlicht würde. Aber nichts fürchtete sie so sehr und bereitete ihr so große Seelenpein, als wenn sie jemand besuchte, um seine Neugierde an ihr zu befriedigen. Einst wollte sie eine hochadelige Dame mitsamt ihrem Gefolge am Freitag in Ekstase sehen, wobei sie immer mit ausgespannten Armen freistehend betete und ganz in die Betrachtung des Leidens Christi entrückt war. In Gehorsam der Äbtissin gegenüber ließ Lukardis es zu. Aber ihr heiliges Schamgefühl und ihre zarte Demut wurden dadurch so verletzt, dass sie in Todesgefahr kam und mit der Letzten Ölung versehen werden musste. Oft richtete sie sich mitten in ihren Verzückungen auf und fragte sich selbst: „Was bin ich? Staub und Asche, Staub und Asche!“ Das Bewusstsein, der göttlichen Gnade und Heimsuchung unwürdig zu sein, verließ sie nie. Dann machte sie sich wieder Gedanken über die Geneigtheit des Menschen zur Sünde, sie zweifelte an der Festigkeit ihres guten Vorsatzes, vor allem fürchtete sie bei der Mannigfaltigkeit und Beschwerlichkeit ihrer Schmerzen sich durch Ungeduld zu versündigen. Immer wieder erneuerte sie daher ihre gute Meinung und ihre Bereitschaft alles Ungemach und alles Leid mit Gottes Hilfe geduldig zu ertragen. Und Lukardis hat wirklich in aller Geduld mit ihrem Heiland das Kreuz getragen und sich mit ihm ans Kreuz heften lassen.
Einsam – die Schwestern waren eben alle beim Chorgebet – im Anblick und im höchsten Mitleiden der Schmerzen des Gekreuzigten übergab sie ihre reine Seele dem himmlischen Vater am Vorabend des Palmsonntags (22. März) 1309. In der Kapelle der seligsten Jungfrau wurde sie beigesetzt. Das Vertrauen ihrer Mitschwestern und der Gläubigen, die die Selige um ihre Fürbitte anriefen, wurde durch manche wunderbare Heilung belohnt. Die unselige Glaubensspaltung aber ließ Grab und Andenken der Seligen ganz in Vergessenheit geraten.
Möge die selige Lukardis mit ihren großen heiligen Ordens- und Zeitgenossinnen, Gertraud und Mechthild, ihrer schönen Heimat wieder den wahren Glauben erflehen, auf dass ein neuer Gottesfrühling in diesem deutschen Land erblühe! Jetzt der Glaube! Dereinst das Schauen!