Das fromme Kammerdieners-Ehepaar Franz und Eva Lindmayr, das zu München „im Tale“ wohnte, hatte sechzehn Kinder, von denen Philipp Franz Doktor der Theologie und Geistlicher Rat in Freising wurde, zwei bei den Karmeliterinnen und ein anderes im Orden des heiligen Bernhard eintraten. Maria Anna Josepha gehört zu den Klosterfrauen, die im 18. Jahrhundert durch besondere Heiligkeit und außerordentliche Erscheinungen ihres Lebens bekannt wurden.
Geboren am 24. September 1657, wurde Marianne von Jugend an zum strengsten Gehorsam gegen ihre Eltern und zum friedlichen Umgang mit den Geschwistern angehalten. Auch eine besondere Andacht zur lieben Mutter Gottes und zum heiligen Joseph wurde ihr eingeflößt. Sie nannte diesen Heiligen gerne „den größten Beschützer der Kirche Gottes“, ein Titel: „Patron der Kirche“, den bekanntlich erst Pius IX., 1870, in feierlicher Form dem lieben Nährvater Christi verliehen hat. Wie Marianna schon als Kind Einsicht in das Wesen und die Notwendigkeit der Buße und Sühne erhielt, eine Erkenntnis, die anderen Christen ihr Lebenlang nicht aufgeht, und wie sie sich auch wirklich ganz schweren Fasten und Bußübungen hingab, so wurde sie schon zeitig auch wunderbarer Ansprachen und Belehrungen seitens des Herrn gewürdigt. Derartige besondere Gnadenerweisungen Gottes sind ja häufig die Frucht eines harten Leidens- und Sühnelebens. Hingebendes Leiden für die Mitmenschen, besonders für die armen Seelen im Fegfeuer ist das hervorragende Merkmal dieser reinen Braut des Herrn. Gott wählt sich ja immer wieder zu allen Zeiten solche Seelen aus, die in inniger Leidensliebe „ihr Leben hingeben für ihre Freunde“.
Als Anna 18 Jahre erreichte, erhielt sie die Zusage zur Aufnahme ins Kloster St. Walburg in Eichstätt. Als sie aber eintreten wollte, erkrankte sie. Ein zweites Mal erging es ihr geradeso, als sie zu den Zisterzienserinnen in Oberschönenfeld gehen wollte. Auch anderwärts hatten sich ihr gute Aussichten eröffnet. Mit bestem Erfolg lernte sie Musik, um Chorfrau werden zu können. Aber immer wieder traten eigenartige Krankheitserscheinungen hindernd dazwischen, so dass auch ihre Beichtväter entschieden, Gott habe sie nicht für das Kloster bestimmt. Eine harte Prüfung, ein bitterer Schmerz, immer wieder in dem sich getäuscht zu sehen, was die Sehnsucht ihres Herzens bildete! Die Weltleute waren überdies geneigt, ihre Erkrankung für Verstellung zu halten; alsbald wurde sie mit Heiratsanträgen belästigt. Da weihte sie sich denn unwiderruflich, inmitten der Welt, einzig dem Dienst des Herrn durch Ablegung der Gelübde der Armut, Keuschheit und des Gehorsams. Später, 1691, wurde sie Tertiarin des Karmelitenordens und führte in ihrer Familie das Leben eines wahren Ordensmitgliedes. Ihr Herz war ihre Zelle und der Ausschmückung dieses Heiligtumes galt nun ihre ganze Sorge. Während des Gebetes wurde ihr einst ein Türschloss vorgehalten, so groß wie das einer Kirche und damit angedeutet, sie solle ihr Herz wie einen Tempel Gottes umgestalten und wohl achthaben, dass die Diebe nicht einsteigen können. Dies zu verhindern, müsste sie ein großes Schloss vorschlagen, den Schlüssel Christus einhändigen und nichts hineinlassen, was in eine Kirche nicht gehört. Sie solle darin die Geheimnisse Christi durch die Betrachtung abmalen, großen Fleiß verwenden, dass sie Gott in sich ehre und ihm gute Opfer auf dem Altar ihres Herzens täglich darbringe. Sie wurde auch angetrieben, wohl achtzuhaben, dass sie Gott in allem getreu sei und den Schlüssel ihres Herzens und freien Willens nicht mehr anstecke, sondern sich ganz für Christus hinopfere. Solcher Art, durch mannigfache Bilder, Belehrungen und Einsprechungen wurde die begnadete Jungfrau von Gott unmittelbar geführt, ohne dass sie dabei versäumte, sich auch den Weisungen der menschlichen Seelenführer aufs genaueste zu unterwerfen. Immer mehr Licht ging ihr in der Seele auf von Gottes Güte und den ewigen Dingen. Was sie nur ansah, führte sie zum Gott ihres Herzens hin und rief eine lebhafte Bewegung der Liebe in ihr hervor. Diese wahrhaft seraphische Gottesliebe entfaltete sich in der auserwählten Dienerin Gottes immer großherziger und opferfreudiger. Wie ehedem der heilgen Theresia, so verwundete auch wiederholt ein Engel das Herz der würdigsten Tochter jener großen Mutter mit dem Pfeil der göttlichen Liebe sichtbar und so gewaltig, dass sie der Liebe hätte erliegen müssen, wenn man ihr nicht mit kühlen Mitteln zu Hilfe gekommen wäre. Anna Marias gewöhnliches Herzens-Wort und „Geheimnis“ war: „O Herr, alles aus Liebe! Alles für dich, o meine Liebe! Du allein bist mein Leben, du all meine Freude! Würdige mich deiner Liebe. Ich begehre nichts, als dich mehr und mehr zu lieben!“ Besonders entbrannte ihre Liebe an den hohen Festtagen der Kirche, beim Empfang des Brotes der Engel und in Gegenwart des allerheiligsten Altarsakramentes. Als sie einst selber über so große Liebe erstaunt war, sagte ihr der Herr: „Liebst du mich nicht über alles, warum sollte ich dich nicht lieben?“ Er forderte sie auf, mit ihm vertraulich zu reden, sich nicht vor ihm zu fürchten, weil er sie ja liebe. Ein anderes Mal vermählte sich der Heilige Geist mit ihr, von dem sie zur Morgengabe seine sieben Gaben begehrte. Dann wieder drückte sie der liebe Heiland an sein Herz mit den Worten: „Ich werde künftig mit dir reden, nicht wie mit Brigitta (von Schweden), meiner Tochter, sondern wie mit Maria, meiner Mutter.“ Ja, Gott machte ihr zu wissen, dass er sie von Ewigkeit auserwählt habe, und wenn auch sonst niemand auf der Welt gewesen wäre, er würde für sie allein vom Himmel herabgestiegen und Mensch geworden sein. Über alle menschlichen Begriffe groß und wunderbar war die Gottesliebe in Maria Anna. Nur daraus erklären sich auch all die übermenschlichen Opfer und Leiden, die ihren Quellpunkt in jener übernatürlichen Liebe hatten, nur daraus auch die übrigen sonst unfassbaren und ganz außergewöhnlichen Geschehnisse ihres Lebens.
Die vielfältigen Krankheiten, die Maria Anna im Leben heimsuchten, waren ebenfalls übernatürlicher Art. Es galten bei ihr die Worte des Hohenliedes: sie war krank vor Liebe. Die Ärzte gestanden, dass sie die Krankheiten der Gottseligen nicht erklären könnten. Bezüglich ihres Todes sagte Maria Anna selber den um sie versammelten Mitschwestern: „Wenn ich gestorben sein werde, so sagen und bezeugen Sie, dass ich Ihnen anvertraut und Sie versichert habe, ich sei an keiner Krankheit und nur aus Übermaß der Liebe gestorben.“ Schon die Krankheiten, die sie immer wieder vom Eintritt in ein Kloster in der Jugendzeit abhielten, waren solcher Art. Verschwanden sie jedoch wieder, wenn sie ihre Kloster-Absichten aufgab. Später, als „ihre Stunde gekommen“ war, bildeten sie kein Hindernis mehr. Im Advent 1682 machte sie erstmals ein vierzigtägiges Fasten durch unter gänzlicher Enthaltung von jeglicher Nahrung. Was sie anfangs im Gehorsam zu sich zu nehmen versuchte, verursachte ihr solche Peinen, dass man für ihr Leben fürchten musste. Beim völligen Fasten jedoch blieb sie gesund und kräftig. Dabei verspürte sie gar wohl die natürlichen Leiden der Nahrungsenthaltung, einen unbeschreiblichen Hunger. Dieses merkwürdige Geschehnis zeigt deutlich, wie ganz mystisch, geheimnisvoll und übernatürlich all die unerklärlichen Vorgänge im Leben der ehrwürdigen Dienerin Gottes aufzufassen sind. Geradeso übernahm sie auch Krankheiten mit freiem Anerbieten Gott gegenüber, aus reiner Nächstenliebe, zur Hilfe oder Sühne. Ihr Seeleneifer und ihre Liebe zum Nächsten war so groß, wie sie selber gesteht, dass keine Mutter eine größere Liebe zu ihren Kindern würde haben können. Sie vermeinte, allen müsse sie zur Seligkeit verhelfen, da ihr Gott über den Wert der Seelen ein so helles Licht gegeben habe. Darum hatten auch die Leute, Vornehme und Arme, viel Vertrauen auf die Weisheit und Erfahrung der Seligen in geistlichen Dingen. Solchen Besuchern „redete sie Tage lang zu in großem Eifer und unter beständigem, schrecklichem Herzklopfen von göttlichen Dingen und hat hierdurch manchem das Herz getroffen und gerührt“. Mit Verwunderung bekannten die Besucher, dass Maria Anna die Geheimnisse ihrer Herzen erkannt habe.
Dass dabei die Dienerin Gottes für sich selbst bisweilen arge Finsternis des Geistes, Beängstigungen und Anfechtungen des bösen Feindes zu dulden hatte, kann nicht Wunder nehmen. Um so reichlicher ergoss sich hernach das Licht des Heiligen Geistes in ihr Inneres. Gott verlieh ihr auch ein fast beständiges Andenken an seine Gegenwart. Immerdar ist ihr, nach ihrem Selbstgeständnis, seine Liebe und sein göttliches Leben vor Augen gestanden. Ohne Andenken Gottes habe sie sich kaum je eine Viertelstunde befunden. Diese besondere Gnade, die sie nicht genügend beschreiben könne, habe sie von Fehlern frei gemacht.
Die beiden Hauptmagnete, die diese Braut des Herrn mit mächtiger Kraft anzogen, waren der Tabernakel und das Fegfeuer. Vor dem Allerheiligsten schienen ihr Stunden nur Augenblicke zu sein. Die zwei Stunden der Vorbereitung und Danksagung auf die heilige Kommunion waren ihr „lauter Erleuchtung und Liebe“. „Am 16. Oktober 1702 sind in der Kirche aus dem heiligsten Sakrament, von der Monstranz weg Strahlen wie Pfeile auf mein Herz ausgegangen.“ Wer sollte da nicht glauben, dass sie es erreicht hat, was der Heiland am Neujahrstag 1704 von ihr verlangte: „Ich will, dass du lebst wie ein Kind und dass du liebst wie ein Seraph.“ In den schönsten und lieblichsten Bildern belehrte sie Jesus, wie sie ihn am nutzreichsten wirklich und geistiger Weise empfangen könne. Wiederholt stillte der Herr ihren geistigen Hunger auf wunderbare Weise. Ihr lebendiger Glaube ging mehrmals ins Schauen über. So zeigte sich ihr Christus, wie er beim letzten Abendmahl war. Ein andermal fühlte sie von den Purifikatorien einen wunderlieblichen Geruch ausgehen und hatte wiederholt beim Empfang der heiligen Kommunion das Gefühl des wirklichen Fleisches und Blutes, wie sie dieses auch mehrmals in der heiligen Hostie sah. Der Fürstbischof von Freising hatte ihr die Auszeichnung gewährt, dass zur Zeit der Krankheit in ihrem Krankenzimmer die heilige Messe an Sonn- und Feiertagen gelesen werden durfte.
Schon von Jugend auf fühlte Maria Annas gutes Herz großes Mitleid mit den armen Seelen. Der liebe Heiland selber belehrte sie einmal, jede Woche eine bestimmte Tugend zu üben und das Verdienst davon den armen Seelen zuzuwenden. Schon im Kindesalter, ohne es zu verstehen, verspürte sie die abgeschiedenen Seelen. Später meldeten sie sich bei ihr wie tägliche Bekannte und zwar auf die verschiedenste Weise. Sie sah bei Nacht das Feuer, hörte ihre Seufzer, auch das Schnalzen und Knistern des Feuers, bei Tag machten sie sich öfters bemerkbar durch Feuerfunken, die Anna auf Hände, Hals und Kleider fielen. Sie hörte sie reden, sah sie unter verschiedenen Gestalten und Bildern, die meist die Strafen und Sünden der Seelen anzeigten. Bisweilen wurde ihr der Tod bekannter Personen geoffenbart und ihr nach und nach gezeigt, wie ihr Zustand in den Peinen des Reinigungsortes sich besserte. Alle diese Seelen aber verlangten Annas Gebet und Genugtuungswerke. „Niemand kann es glauben,“ sagt sie selber, „was mich die armen Seelen gekostet haben. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass ich von den hohen Personen viel mehr bin geängstigt worden, als von anderen Personen niederen Standes.“ Die Seherin musste auf Befehl ihrer Beichtväter ihre Erlebnisse niederschreiben und so meldet sie allein im Januar bis März 1691 über vierhundert Seelen namentlich, die, aus allen Gegenden stammend, durch ihre Vermittlung gerettet worden sind. Begreiflicherweise gab es wegen dieses wunderbaren Verkehrs Annas mit den armen Seelen viel Gerede unter den Leuten und Missbrauch ohne ihre Schuld. Deshalb erging ein kirchliches Verbot in dieser Hinsicht. Ausdrücklich war gesagt, sie dürfe bei Nacht nicht mehr für die armen Seelen aufstehen. Das treue und gehorsame Kind der Kirche fügte sich in allem und jedem. Eher, sagte sie – und das ist ein sicheres Zeichen der Echtheit ihrer Tugend – hätte sie ihr Leben daran gegeben, als dass sie ungehorsam gewesen wäre. Obgleich sie krank wurde und „viel Gefahr des Todes durch den Gehorsam empfunden habe, so habe sie doch gesehen, dass der Gehorsam überaus mächtig sei und stark.“ Was aber noch mächtiger ist, auch die armen Seelen haben sich streng an den Gehorsam gehalten. Doch ein handgreiflicher Beweis für die Kraft des geistlichen Gehorsams und der Himmel und Erde umspannenden Macht der Kirche Gottes überhaupt! Für Maria Anna aber zeigte sich der Segen des Gehorsams während dieser Zeit des Verbotes, das über zwei Jahre gedauert zu haben scheint, in einer starken Zunahme ihres inneren Lebens in der Reinheit des Gewissens, im innerlichen Gebet, indem sie „fast ganz ohne Zerstreuung geblieben“, in Mehrung aller Tugenden. Es war ihr, „als wenn es vom Himmel nur so Gnaden regnen täte“. Da die armen Seelen sie nicht mehr wecken durften, so versah dies Amt nun ihr heiliger Engel, der zu früher Stunde mit lieblicher, klarer Stimme sie mit Namen rief. Wie ist doch Gott gut und liebenswürdig mit den Seinen!
Was die heiligen Seherinnen Hildegard, Brigitta und Katharina von Siena für ihre Zeit und ihre Heimatländer waren, das sollte nach Gottes Willen M. Anna Josepha Lindmayr für Bayern sein in der Unglückszeit des spanischen Erbfolgekrieges. Wie jene so hat auch Anna Lindmayr mit erhabenem Prophetenblick die Zukunft für Kirche und Reich geschaut. Unter den mannigfachsten Bildern wurden der demütigen Jungfrau die kommenden Strafgerichte Gottes gezeigt und ihr befohlen, zur Buße zu mahnen und die Offenbarungen an den Landesfürsten und das Volk bekannt zu machen. Obwohl sie sich „auf alle mögliche Weise dagegen gesträubt, geweint, gebetet und lieber den Tod selbst erwählt hätte als dieses“, musste sie sich schließlich dem ernsten Gebot des Herrn fügen. Statt aber Buße zu tun, wurde das Volk 1704 gegen die Verkündigerin von Strafen nur erbittert. Eine kirchliche Untersuchung brachte ihr zwar wieder Verbot und Verdemütigung, aber kein Urteil gegen die Wahrhaftigkeit ihrer Offenbarungen. Die Ungläubigsten mussten bald die Erfüllung der schlimmen Vorzeichen eintreten sehen. Maria Anna konnte mit allen Bitten und Opfern den Tod des Erbprinzen Joseph Ferdinand nicht abwenden, erkannte ihn vielmehr als einen „Streich der Gerechtigkeit Gottes für das Haus“ des Kurfürsten. Dessen Leben selber aber hat sie erbeten, wie denn Max Emanuel in der einfaltsvollen, gebetsmächtigen Seherin M. Anna Lindmayr seine wirksamste Bundesgenossin erkennen musste. Als damals der Krieg und die Pest, die schon im Lande auftrat, auch die Hauptstadt München bedrohte, da gelobten die Bürger auf Annas Rat und Drängen hin, zu Ehren der heiligen Dreifaltigkeit eine Kirche zu erbauen, 1704. Das Gelübde wurde später auch erfüllt, nicht ohne kräftige Mitwirkung der nun wieder überall hochgeehrten Seligen. Diese kaufte auf göttliche Weisung hin ein Haus, in dem zunächst viele Jungfrauen geistliche Übungen machten, woraus dann 1711 unter Benützung einer Stiftung der Herzogin Mauritia Febronia ein Kloster der Karmeliterinnen entstand. Mitstifterin und geistige Urheberin war M. Anna Josepha. Nun sollte sich auch der Sehnsuchtswunsch ihrer Jugend noch erfüllen. Die Aufgaben, die Gott der auserwählten Jungfrau in der Welt für Kirche, Staat und Volk zugewiesen hatte, die sie in einem Kloster nie hätte lösen können, waren vollzogen. Jetzt hatte die Vorsehung unter ihrer eigenen Mitwirkung den „Ort ihrer Ruhe“ bereitet. Der himmlische Bräutigam selbst sagte ihr am 1. Januar 1712 nach der heiligen Kommunion: „Ich habe die Stiftung deinetwegen gemacht, damit du zur Vollkommenheit und Heiligkeit kommen kannst. Befleiße dich darnach, ich will dich segnen; lebe ohne Sorge, ich will auch deine Nachkommen segnen, wenn sie in der Liebe miteinander vereinigt bleiben und auch die Liebe gegen den Nächsten üben!“ Am 22. Mai 1712 wurde M. Anna Josepha als Klosternovizin eingekleidet und nahm mit größter Freude unter den bereits früher aufgenommenen Chornovizen den letzten Platz ein. Ein Jahr darauf konnte sie einem Seraph gleich ihre Profess ablegen. Und was war das Brautgeschenk, das der himmlische Bräutigam ihr jetzt wieder zugedacht hatte? „Kreuz und Leiden, doch sei dieses alles ganz leicht gegen das Fegefeuer“, so hatte der Herr selber dieser heroischen Seele Mut gemacht.
Vierzehn Jahre noch lebte die ehrwürdige Dienerin Gottes im Orden. Dass sie die klösterlichen Pflichten streng auffasste und genauestens erfüllte, braucht nicht hervorgehoben zu werden. Ihr Grundsatz war: „Einer Karmeliterin soll das allergrößte und allergeringste Amt gleich sein, sie soll zum einen nicht mehr Neigung haben als zum anderen.“ Als Krankenpflegerin, als Priorin, erstmals gewählt 1716, als Novizenmeisterin und Untergebene war sie in der einzig glücklichen Lage, all ihr Tun und Lassen nach den Lehren einzurichten, die sie aus dem Jenseits durch die armen Seelen erhielt, und verstand es so aufs vorzüglichste, andere zum Glück zu führen und zur Heiligkeit anzuleiten.
Die Tage des so überaus merkwürdigen Lebens der ehrwürdigen Mutter M. Anna Josepha neigten sich zu Ende. Am 4. Dezember 1726 erkrankte sie schwer. Um und an der Stirn zeigten sich, wie sich schon früher einmal die Zeichen der Stigmatisation bemerkbar machten, die Dornenkrone und an den Wangen zwei blaue Flecken, wie von Backenstreichen kommend. Beim Empfang der Sterbesakramente am folgenden Tag sprach sie mit inniger Kraft und Salbung von Gott und himmlischen Dingen, mahnte mit lebhaftem Eifer an die Beobachtung der heiligen Observanz (Regel), empfahl den Mitschwestern auch das Mitleid gegen die Armen und schied dann am 6. Dezember 1726, neunundsechzig Jahre alt, zum Leidwesen der ganzen Stadt, in die Heimat der Seligen hinüber, wo sie sich schon so viele Freunde gemacht hatte. Die wunderbaren Zeichen hefteten sich auch an die Tote. Die Glieder behielten eine wundersame Biegsamkeit, waren schön durchscheinend und von lieblicher Röte. Die Stirn war schön rot; einmal war auf der linken Seite und an Händen und Füßen eine zweifingerbreite Röte zu sehen. Am elften Tag machten die Ärzte einen Einschnitt auf der rechten Seite. Wie bei anderen gemachten Wunden floss ganz frisches Blut heraus. Sechs erfahrene Ärzte bezeugten eidlich die natürlich nicht erklärbaren Erscheinungen.
Von dem ehrwürdigen Fürstbischof Johann Franz von Freising ist gleich nach Josephas Tod eine Untersuchungskommission eingesetzt und der Seligsprechungsprozess eingeleitet worden. Durch die Ungunst der Zeit und Mangel an Mitteln ist er aber wieder ins Stocken geraten. Möge unsere Zeit ihn vollenden können, möge der ehrwürdigen M. Anna Josepha Lindmayr von der Kirche die Ehre der Seligen zuerkannt werden, nachdem sie jetzt auch der gleichgestimmten Zeitgenossin Kreszentia von Kaufbeuren verliehen wurde, die im Leben mit Josepha im Münchener Dreifaltigkeitskloster eine Unterredung hatte und nach Josephas Tod die Rolle einer Vermittlerin zwischen ihr und ihrem Kloster spielte. Möchte dieser etwas ausführlichere Bericht wieder die Aufmerksamkeit, Verehrung und Liebe zu unserer heiligmäßigen, vergessenen Landsmännin und Wohltäterin unseres bayerischen Landes wecken!
Recht zeitgemäß für unsere trostlose Zeit ist eine Klage des Herrn an M. Anna am 11. Mai 1704: „Sage den Menschen, niemand glaubt es, wie stark Gott die Sünden der Ungerechtigkeit straft gegen das Gebot, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Aber dieses Gebot ist allgemein übertreten und wie aufgehoben. Sage ihnen, dass ich ihr selbstgemachtes Recht nicht anerkenne, das nur dazu geschaffen ist, ihr zeitliches Besitztum zu vermehren. Das sind keine Gesetze, sondern Kniffe, um den Armen zu berauben und zu unterdrücken . . .“