Wenn Rompilger Loreto besuchen und deshalb die östliche Bahnstrecke entlang der Küste des Adriatischen Meeres wählen, mit all den Reizen einer Landfahrt, die dem Auge den Ausblick auf die hohe See genießen lässt, so berühren sie auch die alte Stadt Rimini, die für Norditalien der Hauptsiedlungspunkt des Christentums gewesen ist. Sie stand von der Langobardenzeit an bis 1860 unter päpstlicher Herrschaft. Von Rimini aus kann eine altehrwürdige Stätte, San Marino, besucht werden, die auf hochragender Warte gelegene kleinste Republik der Welt. Dass diese sich bei dem immer mehr Recht heischenden Zug der Zeit nach Vereinigung und Zusammenschluss aller nationalen Ländergebiete noch immer selbstständig und unabhängig von Italien erhalten hat, das es umschließt und mit dem es sprachlich und wirtschaftlich doch ganz verbunden ist, erscheint immerhin als eine Merkwürdigkeit der Geschichte. Zugleich will San Marino, der kleinste Staat Europas, auch der älteste sein. Im September 1901 hat er das Jubelfest seines 1600jährigen Bestandes gefeiert. Also eine zweite Eigentümlichkeit! Da dürfen wir an eine dritte erinnern. Wie so viele Orte einem Glaubensboten oder Heiligen ihr Entstehen verdanken, so wird auch als Gründer von Stadt und Republik San Marino ein Großer im Reich der Tugend, der heilige Marinus, verehrt. Über dem Haupttor der Kirche in der „Hauptstadt“ des Freistaates prangt die ehrende Inschrift: „Dem heiligen Marinus, ihrem Schützer und dem Urheber ihrer Freiheit.“
Begreiflich, dass aus so früher Zeit keine geschichtlich sicheren Berichte über die Lebensschicksale des Heiligen vorhanden sind. Die kurze Legende lässt ihn uns aber als einen edlen Helden christlicher Liebe erscheinen.
Das in Trümmern liegende Ariminum (Rimini) soll zur Ehre der Kaiser wieder aufgebaut werden. Ein Aufruf rief eine Menge von Baumeistern, Ziegelarbeitern und Steinhauern herbei. Darunter waren zwei Arbeiter aus Dalmatien, Leo und Marinus. Nicht Gewinnsucht hatte sie angelockt, sie kamen, um in fremdem Land unerkannt Demut und Nächstenliebe üben und dadurch dem christlichen Namen Ehre und Ausbreitung verschaffen zu können. Denn beide waren gar eifrige Christen und in der Heiligen Schrift unterrichtet. Wie eine kunstreiche Biene von allen Blumen ihre Nahrung sammelt und in die Schatzhäuser von Wachs den duftenden Honig einbringt, so barg auch Marinus in seinem Herzen den Wohlgeruch aller Tugenden. In der Arbeit war er unermüdlich. Wenn er dabei sah, wie die Arbeitsgenossen ungerechterweise mit Arbeiten überlastet wurden, so bewegte sich ihm das Herz vor Mitleid. Und da er bedachte, wie Christus Mensch geworden sei und so vieles gelitten habe zum Heil der Brüder, so entbrannte er von Eifer, den Brüdern tatkräftig zu helfen. Da er kräftig und von guter Gesundheit war, arbeitete er sogar in der Nacht. Nur am Sonntag machte er sich frei, um seinen religiösen Pflichten getreu nachkommen zu können. So trieb er es lange Jahre. Drei davon sei er auf dem Berg Titanus (Titano) mit Brechen und Zurichten der Steine beschäftigt gewesen.
Nach Vollendung der Bauarbeiten wollte Marinus nicht in seine Heimat zurückkehren, sondern begann in der Stadt und Umgebung das Christentum zu predigen. Nach 12 Jahren habe er sich, um Nachstellungen zu entgehen, auf dem Titanberg verborgen und dort als Einsiedler gelebt. Bischof Gaudentius von Rimini, dem Marinus beim Bau einer Kirche behilflich gewesen sei, soll ihn zum Diakon geweiht haben. Dieser heilige Martyrer Gaudentius wäre derselbe, der an der berühmten Kirchenversammlung von Rimini im Mai 359, wo über 300 Bischöfe versammelt waren, mitbeteiligt war, und der alsbald nach der Synode von den Anhängern des Arianismus, den er mit Kraft bekämpfte, ermordet wurde.
Man sieht, die Legende zieht verschiedene, weit auseinanderliegende Zeiten in eins zusammen. Das aber lehrt sie sicher, dass Marinus schon viele Jahrhunderte hindurch große Verehrung gefunden hat. Wenn man auf dem Titanberg, der überdies den Aufstieg mit einem großartigen Fern- und Rundblick lohnt, die Felsenzelle mit dem Steinbett des Heiligen dem Pilger zeigt, so hat man hierfür einen geschichtlichen Anhalt in der Tatsache, dass dort im Jahr 1586 bei Eröffnung des Grabes die Überreste des Heiligen gefunden wurden. Marinus war Stein- und Bauarbeiter. Er war „mit den Steinen des Landes im Bunde“ (Ijob 5,23) und nicht weniger mit seinen Mitbrüdern zu ihrem zeitlichen und ewigen Wohl. So sind die Heiligen. Sie lieben die Stadt Gottes und bauen an ihr, jeder nach seinen Kräften. „Es lieben deine Diener ihre (der Gottesstadt Sion) Steine und trauern über ihren Schutt“ (Psalm 101,15). Mag der Schutt des Bösen unter den Menschen noch so groß sein, die Diener des Herrn werden nicht müde, zu meißeln und zu behauen, um „mit kostbaren Steinen Jerusalems Türme (die Kirche Gottes) aufzubauen“.
Der Name Marinus, der so viel wie unser „Seemann“ oder wohl auch „Seefried“, Meer-liebend bedeutet, war begrifflicherweise bei dem Volk der Römer, das, vom Meer umgeben, wieder auf die See gedrängt wurde, sehr beliebt. Man zählt ungefähr 40 Heilige oder Selige dieses Namens. Als Christen lieben wir Maria, den Stern des Meeres. – Der Mensch ein Marinus! Der Mensch, zum Bebauer der steinigen Erde bestimmt! Das Meer, sein Ankläger und strafender Tyrann! Und doch der Mensch Freund, Bezwinger des Meeres! Diesen Gedanken führt Bischof Paul Wilhelm Keppler von Rottenburg in seiner geistreichen Art folgendermaßen aus: „Kein Teil der Schöpfung scheint so sehr aus dem Verhältnis der Botmäßigkeit und des Gehorsams gegenüber dem Menschen herausgetreten zu sein wie das Meer. Wenn es seine revolutionären Lieder singt, so erzittert der einstige Herr der Schöpfung; sie greifen ihm ans Gewissen, weil sie voll Anklagen sind gegen ihn, seine Sünde und Schuld. Doch beruhigt und erhebt es ihn wieder zu vernehmen, dass das gewaltige Sehnen der Schöpfung und des Meeres mit seinem eigenen Hoffen zusammenflammt. Dieselbe Hoffnung verbindet jetzt schon beide und wird einst die volle Harmonie zwischen beiden herstellen. Dann wird dem verklärten Menschen die verklärte Natur den verklärten Leib als Morgengabe darreichen und huldigend sich seinem Szepter neigen.“