In der Zeit, in der Kaiser Karl der Große regierte, wurde dem Grafen von Zollern auf Schloss Sülchen am Neckar nach vielem Beten und Warten als Geschenk des Himmels ein Kind geschenkt. Die glücklichen Eltern ließen den Jungen auf den Namen Meinrad taufen. Als der kleine Meinrad mit der Zeit aus der Wiege in die erste Hose wuchs, stellte es sich zur größten Freude des Vaters und der Mutter heraus, dass er ein echter Schwabe war. Denn außer einem hellen Kopf hatte er ein tiefes Gemüt und ein weiches Herz. So sind die Schwaben nämlich, kluge, gute und liebe Leute.
Als Meinrad dann heranwuchs, schickten die Eltern ihn in eine Klosterschule auf der Insel Reichenau im Bodensee. Nichts Lieberes konnten sie dem Jungen antun, denn lernen wollte er sehr. Und weil er auch die Stille und das Beten gerne hatte, fühlte sich Meinrad gleich vom ersten Tag an im Kloster zu Hause und lernte lesen, schreiben, zeichnen, malen und dichten, wie es damals auf den Schulen Brauch war.
Mit der Zeit gefiel es dem jungen Zollerngrafen im Kloster immer besser, er vergaß dabei sogar die Heimkehr auf das elterliche Schloss und wurde Mönch, Priester und Lehrer und unterrichtete mit Liebe und Lust Jungen aus dem Schwarzwald und der Schweiz, die auf den gleichen Bänken saßen, auf denen er selbst gesessen hatte.
Jahr um Jahr hielt Meinrad mit schönem Erfolg Unterricht, aber allmählich fühlte er sich im Kloster doch nicht mehr richtig wohl. Die Jungen waren ihm, wie man sich vorstellen kann, zu unruhig und störten ihn in den Gedanken an Gott. Da ging Pater Meinrad zu Vater Abt und bat ihn um die Genehmigung, Einsiedler werden zu dürfen. Als ihm seine Bitte gewährt wurde, verzog sich der stille Gottsucher auf den Berg Etzel am Züricher See in der heutigen Schweiz, baute sich eine Klause in tiefer Waldeinsamkeit, fastete und betete alle Tage, sieben Jahre lang.
In der ersten Zeit, als Meinrad auf dem Etzel in seiner Klause wohnte, störte ihn niemand. Später jedoch kamen von nah und fern Leute und suchten ihn auf und sprachen sich bei ihm aus. Sie fragten um Rat und baten um Hilfe in tausend Anliegen des Leibes und der Seele. Von allen, die zu ihm kamen, ging keiner ungetröstet wieder weg. Bald redete alle Welt rundherum von dem gütigen und weisen Einsiedler auf dem Etzel. Und als daraufhin die Zahl derer, die ihn oft auch nur aus bloßer Neugierde aufsuchten, mit jedem Tag zunahm, war Meinrad eines Morgens spurlos verschwunden. Wo war er denn geblieben? Er war noch ein gutes Stück weiter in die Einsamkeit gewandert, in den sogenannten Finsteren Wald. Das war ein Urwald, den sicher noch nie ein Mensch betreten hatte. Ganz still war es dort. Und wieder war der Einsiedler mit Gott allein. Bären und Wölfe waren die Nachbarn des Gottesmannes, aber sie taten ihm nichts zuleide. Und die Rehe und die Hasen gingen bei ihm ein und aus, und die Vögel setzten sich dem Klausner gar nicht scheu auf die Schulter und auf die Hand. Der Einsiedler besaß auch zwei Raben, die er, kaum den Eiern entschlüpft, aus dem Nest genommen und großgezogen hatte. Die beiden schwarzen Gesellen folgten dem Heiligen auf Schritt und Tritt und lernten auch einige Worte sprechen. Nur wenn Sankt Meinrad betete, hielten sie sich still, aber wenn der Beter „Amen“ sagte, sagten auch sie laut und deutlich „Amen“ und nickten dazu bekräftigend mit dem Kopf.
Das war für den Einsiedler eine selige und schöne Zeit, aber dann wurde er eines Tages doch wieder entdeckt. Wieder fanden sich die Leute bei ihm ein, mit jedem Tag mehr, und fragten um Rat und baten um Hilfe. Da erkannte Meinrad, dass es so Gottes Wille sei, und er blieb an Ort und Stelle und half allen, die zu ihm kamen. Und wenn die Reichen ihm zum Dank Geld oder Tuch oder Nahrungsmittel hinterließen, so verschenkte der Einsiedler die Gaben dem nächsten Armen, der zu ihm kam.
Neben Meinrads Klause stand eine hölzerne Kapelle mit einer Statue der Mutter Gottes auf dem Altar. An diesem Altar feierte der Einsiedler jeden Morgen die heilige Messe. Da geschah es, dass einmal im strengen Winter gleich nach der heiligen Messe zwei Räuber in das kleine Kirchlein eindrangen. Sie nahmen dem Klausner das wenige, was er besaß, weg und erschlugen ihn. Als sich die Mörder entfernen wollten, stürzten sich die Raben auf sie, hackten auf sie ein und folgten ihnen krächzend und schreiend Schritt für Schritt bis nach Zürich, wo man die beiden ergriff und sie für ihre Tat mit dem Tod bestrafte. Aus Meinrads Klause im Finsteren Wald aber entstand allmählich das große Kloster Einsiedeln mit dem berühmten Gnadenbild der Mutter Gottes. Es ist heute noch das gleiche Gnadenbild wie zu Meinrads Zeiten.
Manche Leute vergleichen Meinrads Raben mit der Stimme des Gewissens, die jeden Menschen quält, wenn er etwas Böses getan hat. Ob das wohl richtig ist?