Narzissus, der mit der Zeit eine der schönsten Zierden des Patriarchenstuhls zu Jerusalem geworden, war in Jerusalem geboren worden und liebte, was des Menschen schönste Zierde ist und sein Heil ausmacht, von Jugend an Weisheit und Frömmigkeit. Er wurde mit der Zeit Priester, obgleich diese Würde seiner Demut zuwider war. Er war eines so sanftmütigen Charakters und unschuldiger Seele, dass man ihn gewöhnlich nur „den heiligen Priester“ nannte. Mit Ehrfurcht und sichtbarer Freude nannte man nach anderthalb hundert Jahren nach seinem Tod seinen Namen. Als er 80 Jahre alt war, starb der dortige Patriarch Dolichianus ungefähr im Jahr 180; da wurde er einhellig zum Bischof erwählt, musste der allgemeinen Zudringlichkeit nachgeben und die Würde annehmen. Gottes Geist war mit seinem demütigen Diener, denn er pflegte des heiligen Amtes mit allem Eifer und mit Treue. Während seines Hirtenamtes wurde der Streit wegen der Osterfeier, der schon lange währte, auf einem Konzil in Palästina beendigt. Der heilige Narzissus und der heilige Theophilus, Bischof zu Cäsarea, führten den Vorsitz, und der Beschluss war ganz einstimmig mit dem Beschluss und der Übung der Abendländischen Kirche. Unter den vielen Wundern, womit Gott seinen Diener verherrlichte, hat Eusebius folgendes aufgezeichnet. Als einst die Gläubigen nach frommer Sitte des Altertums die Nacht vor dem Fest der Auferstehung Jesu Christi in andächtiger Feier durchwachten, bemerkten die Diakonen, dass es zur Nahrung der Lampen an Öl gebreche. Das Volk, welchem die vollständige Feier des Festes am Herzen lag, wurde darüber sehr betroffen. Narzissus aber blieb ruhig und befahl, wie der Herr auf der Hochzeit zu Kana, den Kirchendienern, dass sie aus dem nächstgelegenen Brunnen Wasser schöpfen und herbringen sollten. Es geschah. Er betete über dem Wasser und ließ diejenigen, die es herbeigetragen hatten, mit echtem Glauben an den Herrn, die Lampen damit füllen. Und siehe da, das Wasser war in Öl verwandelt. Noch zur Zeit des Eusebius (140 Jahre nach dem Tod des Heiligen) hatten einige Gläubige in Jerusalem noch etwas von demselben Öl, das sie aufbewahrt behalten hatten. Gott schickte seinem Diener aber auch Leiden zu, und zwar von solcher Art, dass es ihm sehr wehtun musste. Nämlich die Heiligkeit seines Wandels, der mutige Eifer, mit dem er allem Bösen Widerstand leistete, und die Forderung an die Gemeinde: „Ihr sollt heilig sein, weil Gott heilig ist“, zog ihm Feinde zu. Es waren da drei Männer, die trotz dem Zeugnis des Himmels für den heiligen Oberhirten in ihrer Bosheit so weit gingen, dass sie den heiligen Mann eines großen Verbrechens beschuldigten, und, da man ihnen nicht glauben wollte, ihre lügenhafte Aussage sogar mit einem Eidschwur und schrecklichen Verwünschungen gegen sich selbst bekräftigten. Der eine verwünschte sich, wenn seine Aussage nicht wahr wäre, zum Tod durchs Feuer, der andere zum Tod durch eine grauenvolle Krankheit, der dritte zur Erblindung.
Obschon nun die falsche Aussage und selbst der Eidschwur nur bei wenigen Glauben fand und die Christengemeinde mit Zutrauen an ihrem Hirten hing, so verließ doch der Heilige sein hohes Amt, entzog sich in der Stille seiner Gemeinde und bezog einen ganz einsamen Ort, um nur Gott bekannt zu leben. Er glaubte sich des Amtes unwürdig, wenn auch nur ein Schatten des Verdachtes, er möchte so gräulich gesündigt haben, in einigen Herzen bleibe. Gott trat indessen als mächtiger Richter auf und rächte auch öffentlich die öffentliche Schmach der Unschuld. Die Verwünschungen der frechen falsch Schwörenden gingen an ihnen in Erfüllung, und völlig traf einen jeden das Wehe, das er über sich herabgerufen hatte. Der erste verbrannte mit den seinigen in einer Feuersbrunst, die des Nachts schnell sein Haus zu Asche brannte; der zweite wurde von den Fersen bis zum Scheitel mit grauenvoller Plage getroffen, und starb; der dritte, erschreckt durch den traurigen Ausgang der beiden ersten, legte in einem öffentlichen Bekenntnis die Unwahrheit ihrer Aussage und ihre arge Tücke an den Tag. Er bereute von Herzen seine Bosheit, vergoss Tränen der Buße, wodurch er erblindete – glücklich darin, dass er mit dieser Strafe in Buße seine Schuld bezahlen konnte. Gott ist ebenso gerecht, als barmherzig. Er kann sowohl strafen, als verzeihen, sagt Jesus Sirach. Narzissus war so heimlich und an einen so verborgenen Ort entwichen, dass niemand wusste, wo er sei, oder ob er noch lebe. Es schritten also die benachbarten Bischöfe zur Wahl eines anderen. Diese traf einen gewissen Dius, dem dann Germanion, und diesem schließlich Gordius nachfolgte. Nach ungefähr achtjähriger Abwesenheit kam auf einmal, wie von den Toten auferstanden, der heilige Narzissus wieder zum Vorschein. Einstimmig baten ihn die Gläubigen, das Hirtenamt wieder zu übernehmen. Aber der Heilige fühlte sich seines hohen Alters wegen zu schwach dazu, und Gott hatte auch schon einen anderen dazu bestimmt. Alexander, Bischof zu Flavia in Kappadozien, ein heiliger Bekenner, hatte eine nächtliche Erscheinung, die ihn antrieb, nach Jerusalem zu gehen und die heiligen Orte zu besuchen. Er tat es und wurde dort von den Brüdern mit herzlicher Liebe aufgenommen. Als er heimkehren wollte, ließen sie das nicht mehr zu. Denn Narzissus und die Heiligsten unter den Gläubigen hatten schon zuvor eine göttliche Offenbarung gehabt und eine Stimme hatte sich laut vor den Ohren der Gemeinde vernehmen lassen, die ihnen befahl, vor die Stadttore zu gehen, um den ihnen von Gott bestimmten Bischof zu empfangen. Da begegnete ihnen Alexander, der nun genötigt wurde, als Bischof in Jerusalem zu bleiben. Nach einiger Zeit schrieb er an die Gläubigen zu Artinoe, einer Stadt in Ägypten: „Es grüßt euch Narzissus, der vor mir den Bischofssitz einnahm, jetzt mir beisteht mit seinem Gebet, schon hundertsechzehn Jahre alt ist, und euch ermahnt, dass ihr eines Sinnes sein sollt.“ Dieser ehrwürdige alte Mann war also des neuen Bischofs weiser Ratgeber und Stütze im Geist und ein mehr und mehr verklärter und segensvoller Beter für das Volk, bis der Herr ihm seine irdische Lebenslast abnahm und ihm sein Angesicht zeigte im ewigen Licht.