Rossano in Kalabrien, in Süditalien, eine mit starken, nie erstürmten Mauern und Türmen bewehrte Stadt am lieblichen Gestade des Mittelmeeres, war die Heimat des heiligen Nilus. Zum Unterschied von dem Altvater Nilus führt er den Beinamen der Jüngere, wenn man ihn nicht deutlicher durch seine Herkunft kennzeichnen will. Eine fromme Mutter behütete seine ersten Schritte im Leben, das damals durch die von Afrika und Sizilien oft einbrechenden Sarazenen viel gefährdet war. Der gutbegabte Knabe lernte fleißig und rasch die Feinheiten der griechischen Sprache, die in dieser letzten, noch zum oströmischen Reich gehörigen Provinz gesprochen wurde, in der er selbst Gottes Lob sang. Wie für die Dichtkunst, so hatte er auch große Neigung zu Naturkunde, Mathematik und Musik. Mehr noch brachte der Jüngling mit zunehmender Reife den Werken der Väter und der Heiligen Schrift Liebe entgegen.
Doch allmählich ließ sein Eifer nach. Der heitere, fröhliche, junge Mann ließ sich allzu sehr von Weltlust erfassen. Der Lebensbeschreiber Bartholomäus, der als Schüler über das „Leben und Wirken des heiligen, gottbegeisterten Vaters Nilus“ zuverlässig berichtet, muss auch von leichtfertiger Lust und Sünde Erwähnung tun. Erst in schwerer Krankheit nahm die wunde Seele den heilenden Lichtstrahl der Gnade wirksam auf. Dem Abgrund, der sich vor ihm auftat, wollte er mit aller Sicherheit entfliehen. Sein Entschluss stand fest. In der Abgeschiedenheit der Klosterzelleden Frieden und die Ruhe zu suchen, die ihm die Welt mit all ihrer Lust nicht zu bieten vermochte. Der heilsbegierige Büßer flüchtete in das Kloster des heiligen Nazarius. Der Weg ging dem Meer entlang; eben landeten Sarazenenschiffe. Ein Muselmann ergriff ihn mit der Frage, wer er sei. Offenherzig entdeckte Nilus ihm sein Vorhaben. Erstaunt, dass der Schmucke, junge Mann in seiner reichen Kleidung zu den rauen Mönchen in den Felsenschluchten gehen wolle, meinte der Ungläubige: „Da solltest du wenigstens dein Alter abwarten, wenn du wirklich diese Grille hast.“ „Nein,“ antwortete Nilus, „für Gott ist das kein würdiges Opfer, wenn man nur aus Not ihm zu dienen anfängt. Ein Greis, der nicht mehr imstande ist, für seinen Fürsten die Waffen zu tragen, soll der dem König der Könige besser dienen können?“ In Anwandlung einer besseren Regung über solche Großherzigkeit ließen die Moslems den mutigen Ordensjünger unbehelligt ziehen.
In Sankt Nazario und später in Mercurio erwuchs Nilus in strenger Buße zum Heiligen. Ein Buß- und Betorden war es, nach der Regel des heiligen Basilius, in dem Nilus für sich und die arme Menschheit, die wenig betet, Hand und Herz erheben und worin er für eigene und fremde Schuld büßen und sühnen wollte. Mit Erlaubnis des Oberen schlug er seine Wohnung ganz in den Felsen nahe beim Kloster auf. Ein Stein bildete den Tisch, auf dem er studierte – denn seine Bücher hatte der Hochstrebende mitgenommen -, worauf er auch selbst Bücher schrieb und geistliche Gesänge zum Lob Gottes verfasste. Zwei dieser Hymnen, von seiner eigenen Hand geschrieben, sind bis auf unsere Tage erhalten geblieben. Die halbdurchwachten Nächte waren dem Psalmengebet geweiht. Wenn er am Abend, und zwar nur jeden zweiten, dritten oder gar fünften Tag eine Stärkung zu sich nahm, so bestand sie aus wilden Früchten, Brot und Wasser. Bisweilen rang er mit dem Hunger wie mit einer Versuchung und siegreich blieb er, wie wenn er nicht mehr den menschlichen Bedürfnissen unterworfen wäre. Brachte es doch der willensstarke Aszet dahin, dass er bisweilen zwanzig Tage ohne Nahrung blieb, worauf er einige Wurzeln oder ungekochte Kräuter nahm, um im Fasten noch weiter fortzufahren. Und doch ließ es Gott zu, dass er noch immer die Schwachheit des Fleisches und den Reiz der Sinne fühlte. Bilder aus der Zeit der Jugendlust traten verführerisch vor die Augen des sich selbst marternden Mönches. Dem heiligen Benedikt gleich, wälzte er sich in den Dornen. Der Verführer aber wollte nicht weichen. Nilus sollte lernen, dass der Mensch nicht aus eigener Kraft die Übernatur erzwingen könne und dass es Gott ist, der dem den Sieg verleiht, der ihn demütig und geduldig darum bittet. Und Nilus bat und betete so inbrünstig und wolkendurchbrechend, wie nur ein heldenmütig sich dem Höchsten weihender Heiliger flehen kann. Und der Herr erscheint ihm, ausgespannt am Kreuzesholz. Die Rechte löst sich vom blutigen Kreuzesnagel und hebt sich segnend über des Kreuzesjüngers Haupt. Nilus war gesegnet und von der Versuchung erlöst für immer.
Wo ein Licht leuchtet, da suchen Irrgänger und Freunde des Lichtes hin. Nilus, des großen Heiligen, Ruf war schon weithin über ganz Süditalien gedrungen. Lernbegierige Jünger fanden sich ein. Streng prüfte der Meister; anscheinend ganz unvernünftige Befehle ließ er ausführen, strafte sogar ganz ungewöhnlich, auch wenn der Ordensanwärter schon in die Siebzig ging. Freilich die Tränen, die über die so offenkundig werdende Herzenseinfalt der Seinen dem Lehrmeister heimlich in den Bart fielen, verrieten seine verborgenen edlen Gefühle. Nun ließ er es zu, dass ein eigenes Klösterchen St. Hadrian gebaut wurde, wo er seine Brüder durch das Beispiel und durch seinen Geist leitete, wenn er es auch aus Demut ablehnte, ihr Oberer dem Namen nach zu sein. „Nilus ist ein wundersamer Mann,“ so ging die Kunde von ihm durch alle Basilianerklöster. Das war er und noch dazu ein Mann der Wunder. Seitdem er einen byzantinischen Hauptmann mit dem Öl des Ewigen Lichtes geheilt hatte, umdrängten auch die armen Kranken den Mann Gottes. In seiner großen Güte und Barmherzigkeit brachte er Hilfe, wo er nur eine Not fand. Als einmal die Bewohner von Rossano sich aufrührerisch gegen den griechischen Befehlshaber benahmen und Gut und Leben verwirkt hatten, wurde Nilus ihr Retter und Versöhner.
Ein anderes Mal trat er fürbittend für einen armen reuigen Mörder ein, den die Richter zum Tod verurteilt hatten. Wie aber trat er dazwischen? Der Heilige schickte seinen „alten Georg“, eine treue Seele, früher ein reicher Mann aus Rossano, der schon öfters die kräftige und eigenartige Erziehungsweise des gestrengen Novizenmeisters an sich hatte erproben lassen müssen, mit einem Schreiben an den Richter. Darin teilte Nilus mit, dass der Überbringer sich selbst an Stelle des Mörders zur Hinrichtung anbiete. „Ist das wahr?“ fragten erstaunt die Gerichtsherren. „Was denn?“ erwiderte nichtsahnend Georg. „Dass du dich anstatt des Mörders kreuzigen lassen willst?“ – „Ich? Hat Vater Nilus das geschrieben?“ – „Ja.“ – „O, dann kreuzigt mich nur, ich bin bereit.“ Die Richter aber kreuzigten weder Georg noch den Mörder. Nilus hatte einen Doppelsieg davongetragen.
Der Heilige, der große Lehrer und Mahner jener schlimmen Zeit, trat dem Unrecht und der Herzlosigkeit entgegen, wo er sie fand. In Rom war Streit und Hader zwischen Papst und Adel. Ein gewandter Grieche, Philagathos, ein Landsmann von Nilus, war bis zum Erzbischof aufgestiegen und vermaß sich, vom Gewalthaber in Rom, dem Crescentius, der das Papsttum knechtete und ausbeutete, selbst die päpstliche Tiara zu erschleichen. Als Otto III., der deutsche Kaiser, nach Rom kam, 998, ließ er den Crescentius hinrichten, den Philagathos, genannt Johannes XVI., nach dem Brauch jener entarteten Zeit grausam misshandeln. Zunge, Nase und Ohren wurden ihm abgeschnitten, die Augen geblendet und er so eingekerkert. Da erschien der fast neunzigjährige ehrfurchtgebietende Mönch aus den kalabresischen Bergen vor Kaiser und Papst Gregor V., und bat: „Gebt mir Philagathos heraus. Ich will ihn mit mir nehmen und seine Wunden heilen.“ Tiefgerührt sagte der Kaiser die Erfüllung der Bitte zu und wollte den unerschrockenen Fürbitter selbst bei sich in Rom behalten. Das Wort des Kaisers wurde indes nicht erfüllt und Philagathos weiter misshandelt. Da erhob sich Nilus und einem Elias gleich rief er den kaiserlichen Abgesandten zu: „Sagt dem Papst und dem Kaiser, dass sie, die keine Barmherzigkeit gekannt haben, auch für ihre eigenen Sünden vor dem gerechten Gott kein Erbarmen finden werden!“ Um die Schuld zu sühnen, besuchte hernach Otto III. den heiligen Nilus im Kloster Serperi bei Gaeta, fiel ihm zu Füßen, legte den Kronreif in seine Hände und weinte wie ein reuiger Sohn vor seinem Vater. Er versprach dem Diener des Herrn zu geben, was er von ihm begehre. Nilus legte dem Herrscher die Hand aufs Herz und sprach: „Das Einzige, was ich von dir begehre, ist, dass du an dein Heil denken mögest. Obschon du Kaiser bist, wirst du doch sterben und gleich den anderen Menschen Gott Rechenschaft geben müssen.“ Nilus sollte das Bistum Rossano übernehmen, ließ sich aber nicht dazu bewegen.
Das war das Verdienst und die Bedeutung des berühmten Basilianermönches, inmitten der Erniedrigung der Kirche und der Lasterhaftigkeit der Zeit, der ragende Fels der Gerechtigkeit und Güte und der Hort der vernachlässigten Wissenschaft zu sein. Schon seinen Tod ahnend, ging der fünfundneunzigjährige Greis nach Tusculum, dem späteren Frascati in der Nähe Roms. Dort, im Klösterchen der griechischen Mönche von St. Agatha, löste sich seine heilige Seele von seinem so hart gezüchtigten Leib, am 26. September 1005. In Grottaferrata, der eisernen Grotte, einem damals noch unbekannten Ort, wo Nilus vorhatte, ein Kloster zu errichten, wurde er begraben. Das Kloster Grottaferrata, sein Orden und sein Geist sind geblieben bis auf den heutigen Tag.