Die heilige Opportuna wurde zu Seez in der Normandie geboren und erzogen, und hing schon in ihrer Kindheit am Gebet und am Kirchenbesuch. Als sie einst vom Priester die Worte des Evangeliums lesen hörte: „Gehe hin, verkaufe alles was du hast, gib es den Armen und folge mir nach,“ beschloss sie bei sich selbst, dieser Ermahnung Christi nachzukommen und ihm zu Liebe allen zeitlichen Gütern und Freuden zu entsagen. Sobald sie nach Hause kam, warf sie sich vor ihren Eltern auf die Knie und sprach: „Ich beschwöre euch im Namen des Heilandes, dessen Worte ich so eben in der Kirche gehört habe, sagt mir nichts mehr von einem irdischen Bräutigam, denn ich habe mir den Sohn der jungfräulichen Mutter erwählt, und diesem allein will ich mich vermählen.“ Nun kamen viele und begehrten die Jungfrau zur Ehe, angezogen von ihrem Adel, ihrem Reichtum und ihrer einmaligen Schönheit. Aber Opportuna beschied sie mit kurzen Worten: „Ich hab den gefunden, den meine Seele lieb hat; ich will ihn halten und niemals verlassen.“ Um von weiteren Anträgen frei zu sein, begab sie sich mit Erlaubnis ihrer Eltern in das Kloster der Benediktinerinnen zu Montreuil, drei Stunden von Seez. Ihr Bruder Chrodegand, Bischof von Seez, gab ihr das Ordenskleid.
Die Worte des Herrn: „Lernt von mir, weil ich sanftmütig und von Herzen demütig bin,“ waren fortan die Richtschnur ihres Tuns und Lassens. Dabei führte sie die strengsten Bußübungen aus. Nie aß sie Fleisch oder trank Wein; an den Mittwochen und Freitagen nahm sie gar keine Nahrung zu sich, und nur am Sonntag genoss sie etwas Gerstenbrot und ein Stücklein Fisch. Als man sie fragte, warum sie so streng faste, gab sie zur Antwort: „Adam und Eva haben uns durch ihre Gier das Paradies verschlossen; wir müssen jetzt danach trachten, durch Abtötung und Fasten uns das Paradies wieder zu eröffnen.“ Der gebenedeiten Jungfrau war sie von frühester Kindheit an mit ganzem Herzen zugetan. In allen Anliegen nahm sie zu ihr Zuflucht und bat sie um ihre Fürsprache bei dem göttlichen Sohn.
Ihrer seltenen Tugenden wegen wurde Opportuna nach dem Tod der Äbtissin von der Genossenschaft zur Nachfolgerin erwählt, und der Erfolg lehrte, dass sie alle Fähigkeiten zur Verwaltung dieser Stelle besaß. In der Überzeugung, dass eine Oberin ihren Schwestern mit gutem Beispiel vorleuchten müsse, verdoppelte sie bei allen Übungen ihren Eifer. Oft brachte sie die ganze Nacht im Gebet zu. Bei aller Strenge gegen sich selbst, war sie ihren Untergebenen die liebevollste und zärtlichste Mutter. Sie sorgte Tag und Nacht, wie sie alles herbeischaffen könne, was sie zu ihrem leiblichen Unterhalt nötig hatten. Und noch mehr war sie bedacht für das Heil ihrer Seelen. Zu dem Ende gab sie ihnen die lehrreichsten Unterweisungen und munterte sie zu rastlosem Eifer im Dienst Gottes auf. Dabei begegnete sie allen mit wunderbarer Sanftmut. Nie sah man sie zornig, nie hörte man aus ihrem Mund ein böses Wort. Ihre Liebe erstreckte sich auch auf die Armen und Leidenden, und diesen zu helfen, war eine ihrer größten Freuden. Manche Nacht brachte sie am Bett eines Kranken zu.
Der Herr bot seiner treuen Dienerin auch den Kelch des Leidens. Ihr Bruder, der Bischof Chrodegand, hatte nach der damals üblichen Sitte eine Pilgerfahrt nach Rom und Jerusalem gemacht, um die heiligen Gräber zu besuchen. Bei seiner Abreise übertrug er die Verwaltung seines Sprengels seinem Vetter Chrodebert, der aber das in ihn gesetzte Vertrauen schändlich missbrauchte. Er streute das Gerücht aus, der Bischof sei unterwegs gestorben, und eignete sich so die Würde des angeblich Toten an. Nach Verlauf von sieben Jahren kam Chrodegand zurück. Sein treuloser Vetter aber, der den Bischofsstab nicht mehr lassen wollte, sendete ihm Meuchelmörder entgegen, die ihn in Nonant ermordeten. Tief betrübte Opportuna die Nachricht von dem traurigen Ende ihres Bruders; doch der Herr tröstete sie mit der Offenbarung, dass Chrodegand als ein Martyrer der Gerechtigkeit in den Himmel eingegangen sei. Sie holte den Leichnam und ließ ihn in ihrem Kloster bestatten. Die französische Kirche hat Chrodegand unter die Zahl der Heiligen gesetzt.
Hegte Opportuna schon immer das Verlangen, aufgelöst und bei Christus zu sein, so wurde diese Sehnsucht durch den Tod ihres Bruders nur noch mehr erweckt. Der Herr neigte sich der Bitte seiner frommen Dienerin und suchte sie bald darauf mit einer schweren Krankheit heim, die ihr den nahen Tod ankündigte. In den zwölf letzten Tagen wurde sie mit himmlischen Erscheinungen erfreut, wie sie diese auch schon in ihrem früheren Leben öfter gehabt hatte. Sie sah die heilige Jungfrau in Begleitung der Martyrinnen Cäcilia und Lucia vom Himmel niederschweben, und ihr Gemach wurde von überirdischem Glanz erfüllt. Aber auch der Versucher blieb nicht von ihrem Sterbebett weg. Ihm, der in schrecklicher Gestalt zu ihren Füßen stand, rief sie zu: „Du wirst die Braut Jesu Christi nicht überwinden, wie du Eva überwunden hast!“ Um das Ende des zwölften Tages sprach sie in Gegenwart der um ihr Lager versammelten Schwestern plötzlich mit lauter Stimme: „Seht, da kommt meine liebste Mutter Maria, mich abzuholen! Ich empfehle euch ihrer Fürbitte.“ Dann streckte sie ihre beiden Arme in die Höhe, als wollte sie die Erscheinung umfangen. So ging sie ein in die Freude des Herrn am 22. April des Jahres 770.