Die Schönheit der Seele prägt sich gar oft im Antlitz des Menschen aus und verleiht ihm eine solche Anmut und Würde, dass man glaubt, ein Engel habe sichtbare Gestalt angenommen, um zum Himmel hinzuweisen. Ein solches Meisterwerk des Schöpfers war Salome, eine edle Jungfrau aus dem königlichen Stamm Englands, von der man sagte, ihr Leib habe nur eine Unvollkommenheit gehabt, nämlich die, dass er sterblich war. Aber noch schöner war ihre Seele, denn sie liebte Gott über alles und verabscheute die stolze, üppige Welt.
Um nicht von den Reizen des fürstlichen Hofes zur Lauheit im Dienst Gottes verlockt zu werden, fasste sie den heldenmütigen Entschluss, heimlich ihr Elternhaus zu verlassen und ein armes, in Gott verborgenes Leben zu führen. Ihren geheimen Plan vertraute sie nur zwei zuverlässigen Mägden. Diese erklärten sich bereit, ihre Herrin auf ihrer weiten und gefahrvollen Reise ins Heilige Land zu begleiten. Alle drei legten unansehnliche Kleider an und begaben sich auf die Reise. Wie viele Gefahren zu Wasser und zu Land, vor Räubern und wilden Tieren, wie viel Hunger und Durst in der Wüste und unbewohnten Landstrichen, wie viel Hitze und Kälte sie erleiden mussten, weiß Gott allein. Dennoch vertrauten sie dem Schutz ihrer Engel und erreichten glücklich die heilige Stadt Jerusalem. Was mögen jene frommen Seelen empfunden haben beim Anblick Golgathas, wo der liebe Heiland sein Blut für die sündige Welt vergoss? Wie wird sich ihre Andacht versenkt haben in das Leiden unseres Erlösers, als sie die Stätten küssten, die sein Fuß betrat und sein heiliges Blut benetzte! Von Jerusalem wanderten die gottbegeisterten Jungfrauen zur Geburtsstätte Jesu bei Betlehem, nach Nazareth, wo die Erlösung der sündigen Menschheit begann, nach Kafarnaum, wo Jesus seine Bergpredigt hielt, und nach all den Orten, die die Gegenwart Christi geheiligt hat.
Nachdem Salome den Leidensweg einmal betreten hatte, sollte sie fortan dem gekreuzigten Heiland nachfolgen. Auf ihrer Rückreise verlor sie ihre beiden treuen Gefährtinnen durch den Tod. Dennoch beschloss Salome, nicht an den königlichen Hof zurückzukehren, sondern arm und heimatlos allein für Gott zu leben. Auf ihrer Weiterreise fand sie Unterkunft auf einem Landgut bei Regensburg. Ein junger Soldat sagte ihr Schmeicheleien wegen ihrer Schönheit. Da schlich sie sich traurig fort, fiel in einer Wiese auf ihre Knie nieder und flehte zu Gott unter einem Strom von Tränen, er möge ihr die körperliche Schönheit wegnehmen, damit sie niemand Anlass zu sündhafter Anfechtung gebe. Gott erhörte ihre Bitte und nahm ihr das Augenlicht. Blind irrte sie umher und fiel bei Passau in die Donau. Schon hatte sie die Besinnung verloren, als zwei Fischer sie aus dem Wasser zogen. Sie kehrte zum Leben zurück, um noch Härteres zu erdulden.
Bald darauf bekam die blinde Jungfrau noch die schreckliche Krankheit des Aussatzes. In der Nähe von Passau ging sie umher und nährte sich von den Almosen mitleidiger Leute. Eine vornehme und fromme Frau namens Heika nahm die obdachlose Salome gütig in ihr Haus auf und behielt sie drei Jahre lang ei sich. Hier führte sie ein sehr strenges Bußleben und verweilte oft ganze Nächte in der Kirche, so dass sie im Winter oft ganz erstarrt war. Ihr sehnlichster Wunsch war, als eingeschlossene Jungfrau in einer Klause neben einer Kirche Gott ausschließlich dienen zu können. Die gütige Heika teilte ihrem Verwandten, dem Abt von Niederaltaich, den Wunsch der blinden Jungfrau mit. Dieser baute ihr an der Wand des Chores eine Zelle, und hier lebte Salome in frommen Übungen, um sich auf einen gottseligen Tod vorzubereiten.
Während Salome in ihrer Weltabgeschiedenheit ihrem himmlischen Bräutigam im nahen Tabernakel ihre Huldigungen darbrachte, forschte ihre Base Judith, die Tochter des Königs von England eifrig nach der lieben Verschwundenen. Sie ahnte das Ziel der Reise ihrer frommen Verwandten und reiste selbst mit einem großen Gefolge in das Heilige Land. Nach langem Suchen erfuhr Judith den Aufenthalt ihrer Base und begrüßte mit inniger Freude die Wiedergefundene. Judith gedachte Salome nach England zurückzuführen, aber bald genoss sie eine solche Freude an der Einsamkeit, dass sie sich entschloss in gleicher Weise, wie ihre Base, ihre Tage ganz Gott zu weihen. Weil ihr Gemahl gestorben und ihre Ehe kinderlos geblieben war, stand ihrem Verlangen kein Hindernis mehr im Weg. Sie bat deshalb den Abt, dass er neben der Zelle Salomes noch eine andere baue, um mit ihr ein gleichförmiges Leben zu führen. Beide wetteiferten fortan in heiligen Übungen.
Gott schenkte der blinden Salome die wunderbare Gnade, dass sie an jedem Muttergottesfest das Gesicht wieder erhielt. Sie erblickte dann jedes Mal ihren himmlischen Bräutigam Jesus Christus in unaussprechlicher Schönheit. Diese Erscheinung gab ihr einen Vorgeschmack von der himmlischen Wonne und dem ewigen Licht, zu dem sie bald einging. Was mag sie empfunden haben, als ihr der himmlische Bräutigam entgegenging und sie in das Reich des ewigen Lichtes und Friedens einführte!
Nach ihrem Tod sah man öfters zur Nachtzeit in ihrer Zelle glänzende Lichter, als gingen Engel darin umher. Einige Jahre später beschloss auch Judith ihr frommes, abgetötetes Leben. Beide wurden zusammen in einen steinernen Sarg gelegt, mit der Inschrift: „Judith und Salome, bittet Gott für mich!“