Am Niederrhein erhebt sich in der uralten Stadt Xanten ein prachtvoller Dom, dessen himmelanstrebenden Türme weit über Land und Strom hinausschauen. Zu diesem Meisterwerk der christlichen Baukunst strömten im Herbst 1886 zahllose Pilgerscharen, nicht, um die schönen Formen des Bauwerks zu bewundern, vielmehr um das 1600jährige Jubelfest jener Heiligen zu feiern, die dort um des christlichen Glaubens willen ihr Blut vergossen haben, und über deren Reliquien jenes prunkvolle Grabdenkmal errichtet wurde. Es galt die Jubelfeier des heiligen Viktor und seiner 330 Genossen.
Der heilige Viktor mit seinen Gefährten gehörte zur Thebaischen Legion, die früher zu Theben in Ägypten stand, wo das Christentum zu jener Zeit allgemein verbreitet war. Damals herrschte auf dem römischen Kaiserthron der grausame Diokletian, der im Jahr 286 den ebenso grausamen Maximian zum Mitregenten erkor. In demselben Jahr wurde die Thebaische Legion nach Rom berufen, um einen Kriegszug an den Rhein mitzumachen. Das Hauptheer stand bereits in Agaunum, jetzt St. Mauritz im Kanton Wallis. Dort erging an die Legion der Befehl des Kaisers, den Göttern zu opfern, um ihre Gunst für den Feldzug zu gewinnen. Da erklärte der Anführer Mauritius im Namen der ganzen Heldenschar, sie seien bereit, für Kaiser und Reich ihr Blut zu vergießen, nie aber würden sie dem Götzenopfer beiwohnen. Der wütende Tyrann Maximian gab darauf den grausamen Befehl, die Legion zu dezimieren, d.h. den zehnten Teil hinzurichten. Freudig erlitten die auserwählten Soldaten, von ihrem tapferen Anführer Mauritius ermuntert, den Martertod. Nochmals forderte der Kaiser das Götzenopfer, aber die Christen blieben treu. Wieder wurde je der zehnte Mann ermordet. Als auch die dritte Aufforderung scheiterte, befahl der ruchlose Tyrann, die ganze Legion bis auf den letzten Mann niederzuhauen. Dies geschah am 17. September. An diesem Tag feiert die Kirche das Fest des heiligen Mauritius und seiner Genossen.
Einige Abteilungen der thebaischen Legion standen bereits am Niederrhein in verschiedenen Militärstationen. Auch an sie ging der kaiserliche Befehl, den Götzen zu opfern, aber auch sie konnten und wollten dem sündhaften Ansinnen einer Glaubensverleugnung keine Folge leisten, und entflammt von dem heldenmütigen Martertod ihres Feldherrn und ihrer Kriegskameraden erklärten sie alle einstimmig, dass sie dem ungerechten Begehren des Kaisers niemals Folge leisten würden. Deshalb mussten sie das Bekenntnis ihres Glaubens mit dem Martertod besiegeln. Ursus nebst seinen Genossen wurde zu Solothurn am 30. September gemartert. Zu Trier erlitten 660 Thebäer nebst Tyrsus und Bonifacius, den beiden Anführern der Kohorten, am 4. Oktober den Martertod, Tyrsus auf dem Campus Martius, wo jetzt die Paulinuskirche steht, Bonifacius jenseits der Brücke. Es war an der Stelle, wo später die St. Viktorspfarrkirche stand und von wo der heilige Bischof Hildulph die Gebeine von 300 Märtyrern nach St. Maximin übertragen ließ. Am folgenden Tag, am 5. Oktober, wurde Palmatius, der Bürgermeister der Stadt, nebst sieben Ratsherrn um des Glaubens willen gemartert. Am 6. Oktober empfingen viele Bewohner der Stadt Trier, jeglichen Alters und Geschlechtes, die Marterkrone. Von den Thebäern starben weiter für den Christenglauben zu Bonn Cassius und Florentius mit 8 Genossen am 9. Oktober, zu Köln Gereon mit 316 Genossen am 10. Oktober und zu Xanten Viktor mit 330 Genossen ebenfalls am 10. Oktober.
Die Leichen des heiligen Viktor und seiner Kriegsgefährten wurden von den heidnischen Soldaten des ruchlosen Kaisers in einen Sumpf bei dem jetzigen Dorf Birten unweit von Xanten geschleppt. Dort ruhten sie, bis 50 Jahre später die erste christliche Kaiserin, die heilige Helena, die Gebeine der heiligen Blutzeugen aus ihrem unrühmlichen Grab erhob und zu ihrer Ehre einen herrlichen Tempel erbaute. Dieser erste Bau sank jedoch schon im Jahr 450 in Trümmer. Die neubekehrten Franken bauten ihn in königlicher Pracht wieder auf. Im Lauf der Jahrhunderte wurde die Kirche in Xanten mehrmals zerstört oder durch Feuersbrunst vernichtet, erstand aber immer glänzender aus der Asche. Im Jahr 1190 wurde der Grundstein zum jetzigen Dom gelegt, der im Jahr 1550 vollendet wurde. Groß prächtig und erhaben steht dieses Gotteshaus da, als ein würdiges Grabmonument für den hochherzigen Blutzeugen Christi und seiner heiligen Genossen, und als Denkmal der Dankbarkeit des niederrheinischen Volkes für ihren mächtigen Patron, unter dessen Schutz sich der katholische Glaube in allen Stürmen rein und unverfälscht erhalten hat.
Großartig gestaltete sich die 1600jährige Jubelfeier. Die ganze Stadt Xanten glich einem Laubgang mit duftenden Blumenkränzen und wehenden Flaggen. Von nah und fern pilgerten ganze Pfarrgemeinden mit ihren Geistlichen an der Spitze zum Grab des heiligen Viktor. In Gegenwart des Weihbischofs Dr. Cramer von Münster wurde der goldene Schrein aus einer Nische des Hochaltars entnommen und die Gebeine ihrer letzten Hülle entkleidet und in feierlicher Prozession umhergetragen. Zum Schluss der Festoktav hielt der hochwürdigste Erzbischof Dr. Philippus Krementz von Köln das Pontifikalamt, nach dem noch einmal in feierlicher Prozession der Reliquienschrein des heiligen Viktor umhergetragen wurde, begleitet von den Malteserrittern in scharlachroter Uniform, um dann wieder im Hochaltar beigesetzt zu werden. Mit welcher Andacht blickten die Christgläubigen auf ihren hochherzigen Vorkämpfer, und mit welcher Freude mochte der Heilige aus Himmelshöhen auf seine treuen Verehrer herabsehen.