Seitdem Jesus durch sein Wort und Beispiel und durch den Tod am Kreuz die Menschen die Nächstenliebe gelehrt hat, ist die lange Reihe jener Christen nicht mehr abgerissen, die im Dienst der christlichen Barmherzigkeit Großes und Herrliches vollbracht haben. Und einer der größten und herrlichsten unter ihnen ist sicherlich der heilige Vincenz von Paul. Allein die bloße Aufzählung dessen, was der Heilige für die Armen, die Waisen, die Schwerstkranken, die Sträflinge, die Geisteskranken, die alten Leute und so weiter getan hat, gäbe eine Aufstellung, die fast so lang ist wie die Allerheiligenlitanei.
Wie aber kann einer nur Vincenz von Paul heißen?
Paul ist der Familienname des Heiligen. Wie andere Leute den Namen Walter oder Werner oder Wilhelm als Familiennamen führen, so hieß Vincenz von Haus aus Paul. Und das Wörtchen „von“ bei dem Namen Paul zeigt an, dass es sich um eine adlige Familie handelte.
Als Vincenz geboren wurde, waren der Familie von dem Adel allerdings nur noch Name und Edelsinn übriggeblieben. Von Wohlstand konnte keine Rede sein. Die Leute besaßen einen kleinen Bauernhof mit wenig Vieh und schlechtem Ackerboden. Alle im Haus, Vater, Mutter und Kinder, mussten schwer arbeiten, um durchzukommen. Als Fünfjähriger hat Vincenz das Vieh gehütet und als Zwölfjähriger den Pflug geführt. Früh hat er das Arbeiten gelernt, und was Faulheit war, blieb ihm zeitlebens unbekannt. Deswegen hat Vincenz auch viel geschafft und geleistet.
Weil Vincenz studieren wollte, um Priester zu werden, verkaufte der Vater, der anders die Studienkosten für den Sohn nicht aufbringen konnte, die zwei Ochsen, die er hatte. Da musste er mit der Mutter und den anderen Kindern auch noch die Arbeit der beiden Zugtiere auf sich nehmen. Gern haben er und die Seinen sich der zusätzlichen Mühe unterzogen, denn als gute Christen wussten sie, dass die Ehre, einen Priester in der Familie zu haben, alle Opfer aufwiegt.
Als Vincenz später die heilige Priesterweihe empfangen hatte, versuchte er als dankbarer Sohn und Bruder die Eltern und Geschwister zu entschädigen. Alles wollte er daran setzen, dass seine Familie wieder zu Reichtum komme. Damals wusste er nämlich noch nicht, dass das Glück nicht in Geld und Gut, sondern in der Rechtschaffenheit und in dem Erfüllen von Gottes Willen besteht. Und weil diese Tugenden ohnehin in der Familie Paul blühten, so war sie ohne Reichtum glücklich genug. Reicher brauchte sie gar nicht zu werden.
Es wäre auch schade gewesen, wenn Vincenz sich in der Sorge für die Seinen verloren hätte, denn dann wäre er nicht der Vater aller Armen vom kleinsten Kind bis zum ältesten Menschen geworden.
Um den jungen Priester von seinen falschen Gedanken und Plänen abzubringen, ließ Gottes Weisheit es zu, dass er auf einer Schiffsreise von Seeräubern gefangen und als Sklave an die Mohammedaner in Nordafrika verkauft wurde. Damit begann für Vincenz eine harte Zeit. Weil der priesterliche Sklave durch Krankheit geschwächt war und deshalb nur wenig arbeiten konnte, war kein Besitzer mit ihm zufrieden und einer verkaufte ihn an den anderen. Unaufhörlich wurde er zur Arbeit in der mörderischen Hitze Afrikas angetrieben. Man schlug ihn und ließ ihn hungern. Ganz arm und elend und krank und verachtet und verstoßen und verlassen war Vincenz geworden. Aber all das musste nach Gottes Fügung so sein, denn damals lernte der spätere Apostel der christlichen Nächstenliebe am eigenen Leib kennen, wie bittere Not und Armut schmecken.
Als Vincenz daher nach zwei unbeschreiblich schweren Jahren mit Gottes Hilfe aus der Sklaverei entfliehen konnte, hatte er eine neue Familie gefunden. Er fand die große Familie Jesu Christi, zu der die Armen, die Behinderten, die Kranken, die Waisen und alle gehören, die an Leib oder an der Seele in Not sind.
Unglaublich viel ist es, was Vincenz von Paul im Dienst der christlichen Barmherzigkeit geleistet hat. Und heute noch, dreihundertfünfzig Jahre nach seinem Tod, setzt er in Tausenden von Barmherzigen Schwestern sein Wirken segensreich fort. Er war der Stifter dieser Gemeinschaft von Frauen, die ihm zu Ehren den Namen Vincentinerinnen führen. Aller Segen, der seitdem bis heute von den Krankenhäusern katholischer Ordensschwestern ausgeht, hat seine Quelle im Herzen des großen Caritasapostels Vincenz von Paul.
Zum 300. Todestag eines großen Menschen:
Vinzenz von Paul
Von Angela Rosumek, in „Caritas“, Freiburg 1960
Die Lebenszeit des heiligen Vinzenz (1581-1660) fällt in eine der blutigsten Epochen der französischen Geschichte. Die Hugenottenkriege, der Dreißigjährige Krieg, der Flandrische Krieg, der Bürgerkrieg der Fronde, Kriegswirren und Aufstände immer von neuem mit ihrem grausamen Gefolge von Brandschatzungen, Plünderungen, Schändungen und Morden, dazu Epidemien, Missernten, Hungersnöte und fast alljährliche Überschwemmungen. Die kurzen Friedenszeiten waren nicht dazu angetan, dass sich das Land erholen konnte. Was man im Inneren des Staates unter Recht und Gesetz verstand, diente mehr den Interessen der Mächtigen als dem Gemeinwohl und dem Schutz der Schwachen. Der Grundzins der Bauern, die Pacht-, Steuer- und Zollgesetze sogen die Bevölkerung aus. Die „Höllenmaschine“ des staatlichen Salzmonopols lieferte fast ein Drittel der Sträflinge des Landes, einer freilich unentbehrlichen Kaste; denn die königliche Marine bedurfte ihrer als billiger Rudersklaven ihre „schönen, geschwinden“, mit schwungvollen Namen (und Peitschen) versehenen Galeeren. Hof und Adel waren eine Welt für sich, eine Welt von Halbgöttern gegenüber einer Unterschicht anonymer, in Unbildung und Elend versinkender Massen. Die Kluft zwischen den Klassen der Privilegierten und der gewöhnlichen Leute war für uns Heutige fast unvorstellbar, sie schien unüberbrückbar. Nicht nur aus dieser Kluft, aber nicht zuletzt auch aus ihr, entsprang die große französische Revolution von 1789.
Ob Monsieur Vincent, hätte er ein Jahrhundert später gelebt, wirklich die Schrecken der Revolution von seinem Land würde ferngehalten haben und die Gräuel der Bartholomäusnacht, wie Voltaire meinte, wenn er 50 Jahre früher geboren wäre?
Dies ist jedoch gewiss, dass er wie niemand sonst in seiner Zeit die Kluft zwischen Adel und Volk, zwischen Hoch- und Niedriggeborenen, Bevorrechteten und Unterdrückten, zwischen reich und arm zu überbrücken verstand.
Der Bauernsohn bewegte sich mit vollendeter Sicherheit auf dem Parkett oder Marmor der Pariser Palais. Aber er gab seine geflickte Soutane nicht auf noch den Strohsack in der kahlen Zelle von St. Lazare. Er verlor nicht die Brüderliche Vertrautheit mit den kleinen Leuten, den Herzenston den Armen und Geringen gegenüber, unter denen er sich sein Leben lang wohler gefühlt haben mag als im gepuderten Milieu der Herren vom Hof. Er verstand es, Hunderten von Menschen aus den ersten Kreisen Aug und Herz für die anderen zu öffnen, für Leute, die man, auch wenn man fromm und gutherzig war, bisher selten wahrgenommen hatte, geschweige denn, dass man sich Gedanken über sie oder gar Anstrengungen für sie gemacht hätte.
Und noch mehr: Die kleinen Leute waren ihm nicht nur Objekte der Fürsorge, Almosenempfänger, die mit artigem Dank Wohltaten entgegenzunehmen hatten – aus ihnen, aus den armen Familien der Dörfer, holte er sich seine filles de la charité, seine „Töchter der barmherzigen Liebe“, die, von Mutter Luise (der hl. Luise von Marillac) geformt, mit seinen Missionspriestern und -brüdern zusammen seine allerbesten Helfer wurden, die getreuesten und tapfersten Mitstreiter gegen das Elend der Zeit.
Dass Vinzenz sich überall, wo er wirkte, in kürzester Frist aus allen Schichten Freunde und Mitarbeiter für sein Werk gewann, zeigt die geniale, die begnadete Macht seines religiösen Führertums. Geistliche und Analphabeten, Fürstinnen, Bürgerfrauen, Dorfmädchen, er machte sie nicht nur geneigt und geeignet, seine Pläne zu fördern und auszuführen, er weckte und stärkte in ihnen die schöpferischen Kräfte der Liebe, die mit eigenen Augen Not entdeckt und die Wege, ihr hilfreich zu begegnen.
Auch von den eigentlich vinzentinischen Gründungen, den großen Hilfswerken, die mit seinem Namen untrennbar verbunden sind, entstanden manche auf einen Anstoß seiner Freunde und Helfer, vor allem wieder seiner Helferinnen.
Monsieur Vincent selber legte nicht den geringsten wert darauf, Gründer eines Werkes zu heißen oder zu sein. Im Gegenteil. War er aber gewiss, dass Gott ihn rief, dass jetzt „der Augenblick Gottes“ war, gab es für ihn kein Zaudern mehr, kein Hindernis, keine Schwierigkeit, die er nicht vertrauend anging. Dann setzte er alles ein, was er hatte, seine Energie, seinen praktischen Sinn, sein Organisationstalent, seine Verbindungen und Beziehungen, seine Gabe der Überzeugung, den Charme seines Wortes und seiner Person, sein himmelstürmendes Gebet. Dann setzte er durch, was niemand sonst fertigbrachte. Dieser himmlisch-irdischen Durchschlagskraft des Heiligen vertrauten seine Freunde. Mochte ihnen immerhin zuweilen die gute Idee zuerst aufgeblitzt sein, sie trugen sie ihm zu. Wenn er sie aufgriff und segnete, war das Spiel gewonnen.
Ach, es handelte sich um kein Spiel. Es handelte sich um das Wohl und Wehe, um Gedeih und Verderb lebender, leidender Menschen, um das Wohl und Wehe von Leib und Seele vieler, vieler Einzelner, ein jeder von ihnen Gottes Kind und durch Jesu Blut erlöst. Da waren nicht nur die unversorgten Kranken in den Armenhütten und verlotterten Spitälern, das Elend der preisgegebenen kleinen Findlinge, die Scharen verwahrloster Bettler, da waren die grausam gepeinigten Sträflinge in den Löchern der Gefängnisse und an den Ruderbänken der Galeeren, die unverstandenen Irren und vergessenen Alten, die zahllosen Flüchtlinge, Beraubten und Verwundeten der unaufhörlichen Kriege, die Massen der Hungernden und vor allem Entblößten einer mit allen Geißeln der Not geschlagenen Zeit.
Übelständen solchen Ausmaßes, wie sie Vinzenz` Zeit zeigt, zu begegnen, einem Massenelend ohne Grenzen, verlangt wahrlich mehr als Kopf, Herz und Hände eines einzigen Mannes, auch wenn es die kräftigen Bauernfäuste, das glühende Herz und der mächtige Schädel des Monsieur Vincent sind.
Wahrscheinlich gibt es überall und zu allen Zeiten Menschen genug, die zu Dienst und Hilfe bereit sind, auch zu selbstlosem Dienst und großmütiger Hilfe. Aber es fehlt der, der sie ruft, der ihnen Mut macht, der die schlummernden Kräfte in ihnen weckt. Es gab im Paris des 17. Jahrhunderts inmitten der schauderhaften sozialen und politischen Zustände Männer und Frauen von tiefer, wesenhafter, wunderbarer Frömmigkeit. Das 17. Jahrhundert ist das große Jahrhundert der französischen Mystiker. Vinzenz ist einer von ihnen, der Schüler Bérulles. Der, dessen mystische Gottesliebe sich auf einzigartige Weise umsetzte in die Tat der Bruderliebe.
Seine Stimme war nicht laut, war ganz ohne Pathos. Pathetischen Predigten war Monsieur Vincent sehr abgeneigt. Seine berühmte „kleine Methode“, die einen neuen Predigtstil auf die französischen Kanzeln brachte, geht ohne Umschweife, schlicht und praktisch auf das Warum, Was und Wie hinaus. Unter simplicité, einer seiner Lieblingstugenden, verstand er die Einfalt und Echtheit, Lauterkeit und Transparenz, die der Wahrheit entspricht, was er keineswegs blass und abstrakt verstanden haben wollte, sondern wie Jesu Wort im Evangelium warm und voll Leben. Das einfache Wort des Monsieur Vincent hatte Gewicht und Resonanz, weil der ganze Mensch dahinterstand, in jeder Stunde überprüfbar, der ganze lebendige Monsieur Vincent, die Erfahrungen, die Leiden, die Verwirklichungen eines ganzen Lebens.
Vinzenz sorgte dafür, dass auch seinen Helfern und Mitarbeitern die Not der Menschen ins Blickfeld rückte. Was Abbé Pierre uns Heutigen durch sein Wort und Beispiel nahezubringen sucht, das sagte und zeigte St. Vinzenz seinen Zeitgenossen – dass es, wenn nicht der bitteren und unvergessenen Erfahrung am eigenen Leib, so doch der nahen Berührung mit dem Leidenden bedarf, mehr als einer „Tuchfühlung“ –, dass es des „blutigen Kontaktes“ bedarf, immer wieder, um unser Herz aufzureißen und unser Gewissen unruhig zu machen und unruhig zu halten, ein Stachel, der es nicht erlaubt, dass wir uns mit einer guten Tat loskaufen.
Der Hausbesuch bei den Armen und Kranken gehört zum Kernstück der Satzung, die Vinzenz seiner Caritasbruderschaft in Châtillon gab. Er wachte mit eifersüchtiger Liebe darüber, dass er, als sich die Bruderschaften ausbreiteten, nicht vernachlässigt würde. Vinzenz wollte nicht, dass man die Kranken aus ihren Familien entfernte, wenn es nicht um ihrer selbst willen geboten schien. Oder dass man ein Haus einrichtete, in dem sich die Bedürftigen die Almosen abholen sollten. Er liebt nicht die nackte Gabenverteilung, die so demütig sein kann, mag sie auch praktisch und zeitsparend sein. Er will die nahe, die brüderliche Begegnung, die das Herz füreinander aufschließt und Christus sichtbar werden lässt im Leidenden und Mitleidenden.
Das aufgeschlossene, empfängliche Herz für den leidenden Mitmenschen, Vinzenz hatte es von Natur. Schon der Knabe zeigte es. Die unbegrenzte Liebeshingabe der Heiligen aber, die sich über alle Sympathien und Antipathien hinweg opfernd verzehren, erklärt sich nicht aus einem naturhaft guten Herzen allein. Noch das Trachten des Theologiestudenten Vinzenz und auch des jungen Priesters ging kaum höher hinaus als auf eine gute Pfründe, die ihn und die Seinen ernähren sollte. Gott aber riss ihn aus seinen kleinen Plänen heraus. Er packte ihn durch die rauen Fäuste der türkischen Seeräuber und entführte ihn in fremdes, feindliches Land, damit er Hunger und Heimweh und die Schmach der Sklaverei am eigenen Leibe erfahre, aber auch Gottes Gnade und Kraft. Doch auch nach dem Abenteuer der Flucht übers Meer mit seinem bekehrten Herrn ist Vinzenz noch nicht „der Heilige“. Erst in der Schule Bérulles in Paris und durch die Begegnung und Freundschaft mit Franz von Sales, dem heiligen Bischof von Genf, lernt er ganz von sich abzusehen und allein auf Gott und Gottes Willen hinzuschauen und auf das Bild, das Vorbild Jesu. Gottes Willen zu tun und den Fußspuren Jesu zu folgen, wird von nun an immer mehr der einzige Inhalt seines Lebens. Er weiß sich in der Nachfolge des Herrn zu den Armen und Leidenden geschickt. In ihnen erkennt er, das Wort Jesu von den Geringsten wörtlich nehmend, den Herrn selbst.
Dass er so viele bewegte, ihm auf diesem Weg nachzugehen, ist nicht der geringste Ruhm „des Unerreichten in allen Landen“.